Erdogan

»Jeder nach seinem Herzen«

von Thomas Seibert

Glaubt man dem Alt-Islamisten Necmettin Erbakan, dann haben die Juden in der Türkei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und dessen AK-Partei nichts zu befürchten. Im Gegenteil. Kurz vor der Wahl fasste der 81-Jährige seine Verachtung für die aus seiner Sicht überhaupt nicht religöse AK-Partei zu einer simplen Formel zusammen: »Wer die AK-Partei wählt, wählt die Juden.« Die als Warnung an die gläubigen Moslems in der Türkei gemeinte Bemerkung nutzte nichts. Erdogans Partei kam bei der Wahl auf fast 47 Prozent der Stimmen, ist damit stärker als je zuvor und gilt jetzt als Partei der politischen Mitte der Türkei.
Bei den rund 20.000 Juden in der Türkei hat die Wahl und Erdogans Triumph ein gemischtes Echo ausgelöst. Viele, wie der Unternehmer Nisim Cohen, votierten am Wahltag für die kemalistische Oppositionspartei CHP – obwohl die CHP in den vergangenen Jahren stark nationalistische Töne angeschlagen hatte und in der Frage der nicht-moslemischen Minderheiten eine starrere Haltung einnahm als die AK-Partei. Dennoch fürchte er, dass die AK-Partei aus der Türkei einen islamistischen Staat machen werde, gab Cohen in der »Jerusalem Post« zu Protokoll.
Cohen und viele andere Istanbuler Juden wohnen auf den Prinzeninseln im Marmara-Meer, etwa eine Fähr-Stunde von Istanbul entfernt. Die malerischen Inseln, auf denen der Autoverkehr verboten ist und deshalb Pferdekutschen das bevorzugte Transportmittel sind, vermitteln mit ihren prächtigen Sommerhäusern, ihren Wäldern und dem blauen Meer den Eindruck einer südfranzösischen Ferienregion, in der die Zeit stehen geblieben ist. Bei den Wahlen votierten die meisten Menschen dort wie der Unternehmer Cohen: Nach Angaben der Stadtverwaltung räumte die CHP dort mit 4.429 Stimmen ab, während die AK-Partei nur auf 2.520 Stimmen kam.
Die Furcht, dass die AK-Partei trotz aller Bekenntnisse zur Demokratie den Marsch in den islamischen Gottesstaat antreten will, ist aber nicht bei allen Istanbuler Juden verbreitet. »Ich kenne Leute, die CHP ge- wählt haben, aber auch welche, die AK-Partei oder andere Parteien gewählt haben«, sagt Deniz Baler Saporta vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde der Türkei. »Jeder wählte nach seinem Herzen.« Anders als bei den christlichen Minderheiten gab es bei den türkischen Juden keinen eindeutigen politischen Trend. Die Christen votierten mehrheitlich für die AKP, weil sie sich von Erdogan mehr EU-Reformen und damit mehr Chancen auf eine Verbesserung ihrer schwierigen rechtlichen Lage versprachen. Nicht so bei den Juden. »Es gab keinerlei Aufrufe oder Empfehlungen« seitens der Gemeinde, sagt Saporta.
Dass zumindest einige türkische Juden die islamisch verwurzelte AK-Partei wählten, mag auf den ersten Blick verwundern. Doch schon in den vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts bewies der Istanbuler Politiker Salamon Adato, dass sich Juden und islamisch geprägte Parteien in der Türkei nicht unbedingt gegenseitig ausschließen. Adato wurde 1946 und 1954 für die fromm-konservative Partei DP – einer frühen Vorläuferin von Erdogans AK-Partei – ins Parlament von Ankara gewählt und war damit der erste nicht-moslemische Parlamentsabgeordnete der türkischen Republik. Zudem war die Erdogan-Partei für die türkischen Juden am Wahltag kein unbeschriebenes Blatt mehr. »Wir werden ja schon seit Jahren von der Partei regiert«, sagt Saporta. Wie für andere türkische Wähler auch waren für einige Juden in der Türkei die wirtschafts- und europapolitischen Erfolge der AK-Partei ausschlaggebend.
Die Gegner der AK-Partei müssten das Ergebnis wohl oder übel akzeptieren, schrieb Ivo Molinas in einem Leitartikel von »Schalom«, einer jüdischen Wochenzeitung in Istanbul. Wie andere Skeptiker begrüßte Molinas die versöhnlichen Töne, die Erdogan in seiner Rede kurz nach seinem Wahlsieg anschlug: In der Rede hatte der Ministerpräsident betont, dass die AK-Partei trotz erneuter Alleinregierung auch die Meinungen, Sorgen und Ängste ihrer Gegner ernst nehme. Saporta glaubt, dass Erdogans Rede ein guter Beginn für die mit den Wahlen begonnene neue Ära war: »Viele Juden in der Türkei werden aus diesen Worten Hoffnung schöpfen.«

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