Theodor-Herzl-Schule

Insel der Geborgenheit

von Marcus Franken

Jeden Morgen trollt Adin Theilhaber sich verschlafen aus der Wohnung in der Berliner Uhlandstraße 137, Ecke Hohenzollerndamm. Am Kurfürstendamm öffnen die ersten Geschäfte, unter dem Asphalt rauschen die U-Bahnen. Adin, zwölf Jahre alt, hat nur Augen für die neuen Autos: Mercedes-Benz, Ford, ab und zu einen mächtigen Maybach. Zum Zeitvertreib zählt er die geparkten Wagen. Er trifft Rahel Bär, die mit ihm in die Theodor-Herzl-Schule geht. Zusammen laufen sie durch den Tiergarten, über die große Charlottenburger Chaussee und in die Klopstockstraße. Vor dem Klassenfenster rumpelt alle paar Minuten eine S-Bahn über den Stadtring. Aber das nehmen weder Lehrer noch Schüler wahr. Mindestens eine halbe Stunde ist Adin jeden Tag unterwegs. Bei Wind und Wetter. Die Eltern geben ihm kein Geld für die Straßenbahn, obwohl die Nr. 7 vor dem Haus hält. Adin soll sich abhärten. Wie jeder gute deutsche Junge.
Adin Talbar ist ein Leben lang hart und ausdauernd geblieben. Als Schüler, als Kibbuznik, als Soldat in England und Israel, als Vertreter der Außenhandelskammer in Jerusalem. Vor ein paar Tagen ist er nach Berlin gekommen. Wieder an die Uhlandstraße. Wieder an den Kurfürstendamm. Wieder an die Charlottenburger Chaussee, die jetzt Straße des 17. Juni heißt. Mehr als 70 Jahre ist es her, daß er Matrosenanzüge und Lederhosen trug und als Adin Theilhaber durch die Straßen seiner Stadt lief. Die widerspenstige Tolle über der Stirn hat sich weiß gefärbt, statt Lederhosen trägt er ein hanseatisch-blaues Jacket mit goldenen Knöpfen, das ihm langsam zu groß wird. Doch sein Jungen-Gesicht und sein Jungen-Humor scheinen unter den Falten und Furchen durch. Auch sein schönes, bildungsbürgerliches Deutsch hat die Jahre über- dauert.
Adin Talbar hat sie wieder zusammengebracht: Anni, Ruth und Susi; Alfred, Theodor und Heinz. 35 Ehemalige der Theodor-Herzl-Schule sind seiner Einladung nach Berlin gefolgt, um sich 67 Jahre nach Schändung und Schließung ihrer Schule zu erinnern. Und um gegen die Verletzungen zu kämpfen, die sie seitdem mit sich tragen.
Die Stimmung unter den in Deutschland geborenen Israelis, Schweden, Engländern und Australiern ist ausgelassen. Sie sind Jahrgang 1919 bis 1928. Aber sie heißen nicht mehr Alfred, Jacob oder Heinz, sondern Fred, Jacov und Mordechai. Auf den Namensschildern haben sie die Mädchen- und Jungen-Namen unter ihren heutigen Namen notiert. Adin Talbar, geborener Theilhaber, sitzt mit seinem Mitschüler Jona Rosenfeld im Café des Hotel Kempinski über dem Ku’damm. Erschöpft läßt Talbar den Kopf auf die Tischplatte sinken und fällt in einen fünfzehnminütigen Tiefschlaf, um zu beweisen: Power-Napping geht auch noch mit 85. Jona Rosenfeld schmunzelt. Aus dem Fenster sieht er, wie die Leute vor dem Regen unter Schirme und Vorsprünge flüchten. Das Hotel Kempinski gab es damals auch schon. Und es braucht nicht viel Phantasie, um die Unterschiede zwischen 1933 und 2006 zu vergessen. »Nein«, sagt Rosenfeld, der nach der Schulzeit in Berlin Professor für Sozialarbeit in Jerusalem wurde. Er spüre keine Bitterkeit angesichts von so viel deutscher Normalität. Es ist nicht sein erster Besuch in Berlin. Aber da wühlt noch etwas in ihm, das er nicht benennen kann. Das er sich Zeit seines Lebens nicht so genau ansehen wollte. Und das ihn vor dem Klassentreffen monatelang schlecht hat schlafen lassen.
»Oase«. Immer wieder taucht dieses Wort in den Erinnerungen an die Schulzeit auf. Die Schule war ein Schutzraum; eine »zweite Heimat«. Günther, heute Eliezer, Hammerstein, der 1933 von einer preußischen Realschule an die Theodor-Herzl-Schule wechselte, nennt sie eine »Insel der Geborgenheit und menschlichen Wärme« und erinnert sich an seine »glückliche jüdische Jugend« – im Berlin von 1936. Jona Rosenfeld würde dem wohl zustimmen.
Berlin vor 1933. Juden und Christen gehen gemeinsam zur Schule und teilen sich nur für den Religionsunterricht: katholisch, jüdisch, evangelisch. Für ein paar Stunden in der Woche. Den meisten Eltern reicht das. Doch die Schulen laufen schlecht. Das jüdische Bürgertum versteht sich zuerst als deutsch-bürgerlich und dann erst als jüdisch. Der 1893 gegründete »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« ist loyal gegenüber dem Vaterland. Die meisten »Deutschen jüdischen Glaubens« sind dabei, ununterscheidbar im Bürgertum aufzugehen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg nimmt die Zahl der von den Liberalen verächtlich als »Judenschulen« verspotteten Einrichtungen stetig ab.
Die Zionisten sind mit 20.000 nur ein kleines Grüppchen unter den 570.000 Juden, die Anfang der dreißiger Jahre in Deutschland leben. Theodor Herzl hatte mit seiner Schrift Der Judenstaat 1886 die Idee eines jüdisch-sozialistischen Staates in Palästina populär gemacht, im Jahr darauf folgten Zusammenschlüsse wie die Gründung der »Zionistischen Vereinigung der Juden für Deutschland« oder die 1896 erstmals erscheinende »Jüdische Rundschau«. Doch die jüdische Schulbewegung verliert an Schwung. Im Weltkrieg verteidigen überdurchschnittlich viele Juden ihr Kaiserdeutschland. Liberale bekämpften die Zionisten. »Indem sie die Besonderheit des jüdischen Volkes hervorheben, untergraben sie alle Bestrebungen zum Erhalt der Bürgerrechte in Deutschland«, klagt der Centralverein. Hier Berlin, da die Wüste – das ist für das städtische Bürgertum keine verlockende Alternative. Die kleine Schule der Zionisten ist seit 1921 in einem Nebenraum der Synagoge in der Fasanenstraße untergebracht. Sie ringt mit finanziellen Schwierigkeiten und kann die Zahl ihrer Grundschüler nicht über 200 steigern. Morgens beginnt der Unterricht mit Hebräisch, damit die Kinder die Bibel mit »vollem Verständnis« lesen lernen. Dann stehen Geschichte, Rechnen, Sport, Musik und Kunst auf dem Plan. Auch die Zionisten stehen fest in der Tradition deutscher Dichter und Denker. Mit Stolz: Ihr Ziel ist ein nationales und humanistisches Judentum. Das prägt die Atmosphäre der Schule.
Die Kinder sind sich bestenfalls halb bewußt, in welcher Welt sie da leben. »Alle Freunde meiner Eltern waren Zionisten«, sagt Jona Rosenfeld. Er lernt kaum etwas anderes kennen. 1930 zieht der Junge aus dem beschaulichen Karlsruhe in die Metropole Berlin. Der Vater gehört der kleinen Gruppe zionistischer Intellektueller an und schickt seine drei Söhne auf die Theodor-Herzl-Schule. »Das war ein riesiger Unterschied zu Karlsruhe«, sagt Rosenfeld. Nicht nur, weil er jetzt plötzlich von Juden umgeben ist. In Karlsruhe herrschte deutsche Disziplin, im Zweifelsfall wurde sie mit dem Rohrstock hergestellt. In Berlin scheinen Schüler und Lehrer befreundet zu sein. Einige Pauker lassen sich duzen! Und statt ihre Noten abzuholen, schätzen die Schüler sich selber ein und lassen ihre Selbsteinschätzung von den Lehrern korrigieren, bevor die Klasse über die Note abstimmt. Im Unterricht wird nicht pariert, sondern diskutiert. Die Lehrer kommen aus der Reformbewegung, die Schule ist eine der ersten, die Montessori-Pädagogik nicht nur im Kindergarten, sondern auch bei Schülern praktiziert. »Das wichtigste war, für sich selbst zu stehen«, sagt Jona Rosenfeld. Selbstbewußt ins Leben zu gehen, seine jüdischen Wurzeln zu kennen und damit zufrieden zu sein.
Die Atmosphäre der kleinen Schule übersteht selbst die »Machtergreifung« der Nazis. Weil viele Kinder die »deutschen« Schulen verlassen müssen, steigt die Zahl der Schüler sprunghaft von 200 auf bis zu 600 an. Schulleiterin Paula Fürst zieht mit ihren Kindern in ein neues Gebäude am Kaiserdamm um. Jetzt hat die Schule sogar einen eigenen Garten und großzügige Werkräume. Im Kochkurs stehen »Pilzsuppe, Blumenkohl im Reisrand und Tomaten-Sauce« auf dem Plan. Aus dem utopischen Palästina ist inzwischen ein reales Land geworden, für das man eine Sprache braucht und einen ordentlichen, handwerklichen Beruf. »Ab 1933 wußten wir, daß wir nach Palästina gehen«, sagt Talbar. Die Koffer sind gepackt: »Auf dem Weg zur Schule habe ich überall in flammend roter Schrift »Juden raus. Geht nach Palästina« gelesen«, erzählt Schulamit Arnon, die mal Schloßberg hieß. »Da habe ich gedacht: Was wollt ihr eigentlich? Genau das haben wir doch vor.« Der Schutzschild aus Schule und Elternhaus scheint zu halten. Durch die Schule werden jetzt Hunderte von Kindern geschleust. Sie ist ein Wartesaal für die Ausreise. Jona Rosenfelds Vater und Brüder gehen 1933, Jona bleibt mit der Mutter in Berlin und erlebt, wie sie die Möbel der Familie an deutsche und jüdische Nachbarn versteigern muß. In der Reichshauptstadt dürfen die Schüler bald kein Gemüse mehr ziehen, weil es Juden verboten ist, deutschen Boden zu berühren. Dennoch finden weiter Sportfeste, Theateraufführungen und auch Ausflüge in den Harz statt. 1935 geht der kleine Adin nach Palästina. Seine Mitschüler verabschieden ihn mit einem Gedicht:
Mit 14 Jahren erreichst Du das Ziel /
von dem wir alle erwarten viel /
drum sei als Jude brav und treu /
betritt die Welt ganz ohne Scheu.
Das handgeschriebene Blatt hängt jetzt in der kleinen Ausstellung zur Theodor-Herzl-Schule in der »Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung« in Berlin-Friedrichshain. Jona Rosenfeld erkennt auf einer Liste seine alten Lehrer für Hebräisch, Bibelkunde und Werken wieder. Erst im September, acht Monate nachdem Hitler Reichskanzler wurde, kann Jona Berlin verlassen und reist mit dem Schiff über Neapel und Athen nach Palästina. »Ich merke jetzt zum ersten Mal, was für einen Einfluß diese Monate auf mich hatten«, sagt er leise. Und findet endlich das Wort, um den Druck zu beschreiben, der 70 Jahre auf ihm gelastet hat: Verrat. Der Verrat an seiner ganzen Person, der ihm die Heimat und das Gefühl der Geborgenheit genommen hat. Ein Trauma, das ihn begleitet.
Den Raub des Urvertrauens konnte die Herzl-Schule vielleicht lindern, verhindern konnte sie ihn nicht. Viele Schüler hat der Bruch ein Leben lang geprägt. Die Tochter der Schülerin Marianne Prager reiste aus der Wahlheimat Schweden in die USA, um ihre Kinder dort zu bekommen. Sie sollten mit dem amerikanischen Paß einen Fluchthafen haben, wenn es »in Europa wieder losgeht«, sagt Tochter Monica. Selbst Schweden schien nicht mehr sicher. Steve Jacobs erzählt, daß sein Vater Alfred Jacobowsky sein ganzes Leben in den USA an einem gebrochenen Selbstbewußtsein gelitten und sich im Lieben nie sicher gefühlt hat. Gegen die Angst ist er in eine harte Schale geschlüpft und hat sie erst nach seiner Pensionierung abgelegt. Da erst fühlte er festen Grund unter den Füßen. In Berlin kann der alte Mann sagen: »Life’s been good to me.« Seine beiden Söhne und seine deutsche Schwiegertochter begleiten ihn. Er weint.
In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wird die Theodor-Herzl-Schule verwüstet. Am 31. März 1939 schließt sie offiziell. Ob es in der Zeit dazwischen noch Unterricht gab, weiß heute niemand mehr.

Die Ausstellung »Wir gehen gern in die Schule« ist bis zum 22. Dezember in der Bibiliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Warschauer Straße 34, Telefon 030/ 29 33 60 34) zu besichtigen. Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 10 bis 18 Uhr

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