Sodom

Im Namen der Gerechtigkeit

von Alfred Bodenheimer

Dass Noach zu Beginn des vorletzten Wochenabschnitts (1. Buch Moses 6,9) ein »gerechter Mann in seinen Generationen« genannt wird, gibt bekanntlich Anlass zu verschiedenen Deutungen: Einer eher bewundernden, die Noach besondere Gerechtigkeit attestiert, weil er sie sogar in seiner moralisch schwachen Generation aufrechterhielt, und einer eher kritischen, die Noach zwar gemessen an den Standards seiner Zeit als Gerechten sieht, aber nicht gemessen an Standards, wie sie etwa ein Abraham gesetzt hat.
Die kritische Deutung wirkt dabei zweifellos nachhaltiger, mit gutem Grund. Während nämlich aus dem Text der Tora außer der Erwähnung von Gottes Zorn und Seiner Sintflut kein ausdrückliches Indiz für die Verderbtheit der Generation und den Kontrast des Gerechten Noach ihr gegenüber ersichtlich wird, ist das Negative seines Verhaltens, gemessen am Verhalten Abrahams, durchaus evident: Noach baut sich seine Arche und rettet abgesehen von der Tierwelt gerade noch seine Familie, während Abraham den fremden und von Gott verdammten Bewohnern von Sodom mit allen Mitteln und in Auflehnung gegen den göttlichen Beschluss der Vernichtung beizustehen versucht.
Anders als der andere große Fürsprecher der Tora, Moses, der sich dem göttlichen Vernichtungsbeschluss gegen Israel widersetzt, hat Abraham faktisch mit seinen Bitten keinen Erfolg – was aber vor allem daraus resultiert, dass die Mindestbedingungen, an die auch er die Rettung der Stadt knüpft, eine minimale Zahl von Gerechten, nicht gewährleistet sind. Indem die Tora uns Abrahams Handel mit Gott um das Leben der Vernichtung geweihter Stadtbewohner nicht vorenthält, sendet sie eine klare Botschaft: Wenn Gott richtet, entbindet er die Menschen nicht davon, mit Ihm zu rechten. Allerdings soll dieses Rechten nicht dem Ziel dienen, die persönliche Beziehung zu Ihm einer Revision zu unterziehen. Vielmehr ist der Mensch aufgefordert, Argumente einzubringen, die aus menschlicher Sicht überzeugender klingen als aus göttlicher, um etwas zu retten, was schon verloren scheint. Denn nur um das zu Rettende, nicht um das schon Verlorene wird in der Tora mit Gott gerechtet.
Die berühmten Worte Abrahams, mit welchen er Gott im Streit um Sodom herausfordert, lauten: »Es sei verhütet vor Dir, dass eine solche Sache getan werden soll, den Gerechten mit dem Bösen zu töten, und der Gerechte soll wie der Böse sein, verhütet sei es vor dir; der die ganze Welt richtet, wird der keine Gerechtigkeit vollziehen?« (1. Buch Moses 18,25)
Rabbi Meir Simcha Hacohen aus Dwinsk interpretiert den Schluss dieses Satzes in seinem Kommentar Meschech Chochma allerdings ganz anders: »,Der die ganze Welt richtet, wird keine Gerechtigkeit vollziehen‹, da Du der Richter der ganzen Erde bist, umfasst Dein Blick die ganze Erde, und Du wirst Sodom gegenüber einer andern Stadt einschätzen, und du wirst (in Sodom) keine Gerechten finden gegenüber den Gerechten in anderen Städten. Und deswegen wirst Du keine Gerechtigkeit vollziehen, verhütet sei dies vor Dir. Beachte nur diese Stadt für sich, ob sie Fromme sind gegenüber den eigenen Leuten.« Gemäß dem Meschech Chochma stellt also Abraham nicht rhetorisch Gottes Gerechtigkeit in Frage, sondern er spricht sie Ihm geradewegs ab, und zwar aus dem paradox klingenden Grund, dass Gott zu viel Überblick über die Welt hat, um wirklich angemessen richten zu können. Man könnte hinzufügen: Beim Blick über die ganze Welt zu Noachs Zeiten galt dieser, selbst wenn er mit Abraham absolut nicht zu vergleichen war, gemessen am damaligen Weltstandard, als Gerechter. Weshalb sollen die Leute von Sodom nicht am Standard ihrer Stadt gemessen werden?
Gerade die Mangelhaftigkeit seines menschlichen Blicks wählt Abraham, um Gott zu zeigen, dass eine Gerechtigkeit für Menschen aus dem menschlichen Blick heraus eventuell eher für die Menschen zutrifft als die göttliche. Denn die Menschen erfahren, was Kontexte sind, in welchen Menschen leben, und sie passen die Vorstellungen von Vollkommenheit automatisch den relativen Umständen an. Gottes Gesetz ist für die Menschen nie in letzter Konsequenz nachvollziehbar – weder wenn sie Richter, noch wenn sie Gerichtete sind. Abraham benützt deshalb – so lehrt es der Meschech Chochma – das absolute Wort »Gerechtigkeit« (hebr. Mischpat), um Gott gegenüber genau das auszudrücken, was nur aus einer relativierenden und eben nicht absoluten Sicht der Menschen resultieren kann. Damit demonstriert er auf eindrucksvolle Weise, dass der Mensch nicht einfach Sachwalter des göttlichen Gesetzes zu sein hat, sondern dass er, auch gegenüber Gott, gezielt für die Verbindlichkeit des beschränkten menschlichen Blicks einzustehen hat, für Humanität in ihrem einengenden und zugleich befreienden Sinne, wo es darum geht, Menschen für ihre Taten zu richten.

Der Autor ist Professor für Hebräische und Jüdische Literatur an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.

Video

Was Sinwar kurz vor dem Überfall auf Israel machte

Die israelischen Streitkräfte haben Videomaterial veröffentlicht, das Yahya Sinwar am Vorabend des Hamas-Überfalls am 7. Oktober 2023 zeigt

 20.10.2024

Gaza

100.000 Dollar für jede lebende Geisel

Der Unternehmer und ehemalige Sodastream-CEO Daniel Birnbaum hat den »guten Menschen in Gaza« ein Angebot gemacht

 20.10.2024 Aktualisiert

Baden-Württemberg

Jüdisches Mosaik in Karlsruhe beschädigt

War es ein Unfall, Vandalismus oder eine gezielte Tat?

 15.10.2024

80. Jahrestag

Gedenkstätte Sachsenhausen erinnert an ermordete KZ-Häftlinge

Auch mehrere Kinder und Enkel von Opfern nahmen teil

 14.10.2024

Zahl der Woche

Unsere Zahl der Woche

Fun Facts und Wissenswertes

 11.10.2024

Kulturgeschichte

Erfundene Tradition

Wie das Dirndl zuerst jüdisch und dann nationalsozialistisch wurde

von Karin Hartewig  11.10.2024

Berlin

Wanderwitz: AfD »lebt ein völkisch-rassistisches Menschenbild«

Die rechtsextreme Partei vertrete »ihr Ziel der sogenannten Remigration ganz offen«, sagt der SPD-Abgeordnete

 11.10.2024

7. Oktober 2023

Baerbock betont Israels Recht auf Selbstverteidigung

»Wir stehen an Eurer Seite«, sagt die Außenministerin in Richtung Israel

 06.10.2024

Interreligiöser Dialog

»Jede Klasse ist da sehr verschieden«

Muslime und Juden gehen im Rahmen des Projekts »Meet2Respect« gemeinsam an Berliner Schulen

 05.10.2024