Elena Egorova

»Ich spreche gern viel und laut«

Bei mir sieht jede Woche anders aus, keine wiederholt sich. Das ist auch nicht schlimm. Die Hauptsache ist, dass es immer interessant bleibt für mich. Und das verdanke ich meiner Arbeit hier bei der Jüdischen Gemeinde Bielefeld. Einerseits bringt sie mir viel Glück und Freude, andererseits habe ich aber auch viel Stress. Ich bin ständig am Laufen, Rennen, Sprechen, habe immer eine Beschäftigung. Wenn ich nach Hause komme und meine Kinder – meine Tochter ist 18, mein Sohn 11 Jahre alt – sofort auf mich zugestürmt kommen, muss ich erst mal um Ruhe bitten. 20 Minuten reichen, dann kann ich weitermachen.
Aber eigentlich passt diese Arbeit ganz gut zu meinem Naturell. Ich spreche gerne viel und laut – grenzenlos. Aber manchmal tut mir meine Zunge weh, wenn ich vier oder fünf Gespräche beinahe gleichzeitig führe. Wenn ich Sprechstunde habe, dann ist richtig viel los. Das Telefon klingelt, das Handy, dann kommt noch jemand rein, ich koche Kaffee, und und und. Hier ist Leben. Auf Russisch würde ich sagen: Ich fühle mich wie ein Fisch im Wasser. Ich habe schon immer gern mit Menschen zu tun gehabt, und als Sozialarbeiterin passt das. Damit habe ich hier vor sechs Jahren angefangen.
Seit Mai 2002 bin ich mit meiner Familie in Deutschland. Wir kommen aus Orechowo-Sujewo in der Nähe von Moskau. Mein Mann ist fast zehn Jahre jeden Morgen um vier Uhr nach Moskau gefahren und abends um zehn Uhr wieder nach Hause gekommen. In unserer Küche hing ein Foto von ihm, damit die Kinder nicht vergessen, wie Papa aussieht.
Mit dem Judentum hatte ich damals noch ganz wenig zu tun, in der Stadt gab es keine Gemeinde. Mir war zwar seit der Kindheit bekannt, dass ich Jüdin bin, aber ich wusste nicht, was das bedeuten sollte. Als wir nach Deutschland kamen, haben wir uns gezielt dafür entschieden, in eine Stadt zu gehen, in der es eine jüdische Gemeinde gibt. So waren wir nicht allein, man kümmerte sich um Sprachkurse für uns, mein Sohn bekam einen Platz im Kindergarten – und das ist es, was ich jetzt für andere mache. Nach einem Jahr in Bielefeld, als ich den Sprachkurs bestanden hatte, fragte mich die Gemeindesekretärin, ob ich einer Familie helfen könnte, die in der gleichen Situation war wie wir nach unserer Ankunft. Das waren meine ersten Schritte. Dann kam die nächste Familie und die übernächste. Später habe ich in Oldenburg ein Studium begonnen: »Interkulturelle Beratung«. Ein Jahr lang lebte ich dort, in dieser Zeit war es fast so wie früher mit meinem Mann, der immer nach Moskau gefahren ist.
Seit einem Jahr bin ich in der Jüdischen Gemeinde fest angestellt. Meine Tochter hat mich mal gefragt, ob mir meine Familie oder die Leute in der Gemeinde wichtiger sind. Denn zu Hause klingelte ständig das Telefon, jemand las mir Briefe vor, ein anderer beschwerte sich über Behörden. Und irgendwann hat mein Mann gesagt: »So geht das nicht mehr weiter.« Inzwischen wissen die Leute, wann ich arbeite und wann ich Freizeit habe. Wenn es um eine wichtige Sache geht, kann man mich auch nachts anrufen, aber Briefe lese ich erst am nächsten Tag. Jetzt funktioniert das, aber am Anfang waren einige Leute sauer. Es war auch für mich selbst schwer, doch für die Familie ist das wichtig. Man muss diese Barriere haben, sonst macht man sein Leben kaputt.
Ich habe jeden Tag Sprechstunde in der Gemeinde. Die Leute kommen, wir gehen Akten durch oder Briefe von Ämtern, ich telefoniere oder schreibe Antworten. Wenn es nötig ist, vereinbare ich Arzttermine, manchmal begleite ich die Menschen dann auch. Einige Ärzte können Russisch, da werde ich kaum gebraucht. Aber bei Spezialisten muss ich oft helfen, viele sprechen nur Deutsch. Bei älteren Leuten mache ich manchmal auch Hausbesuche, wenn sie ihre Wohnung nicht mehr verlassen können. Und die Probleme, die die Menschen haben, sind immer andere, ob in der Sprechstunde oder bei den Hausbesuchen. Deshalb ist auch jede Woche anders.
Heute ist es für mich ein bisschen leichter, denn ich habe meine Kontakte. Viele Ärzte und Behörden kennen mich. Ich rufe an, spreche kurz mit den Leuten, manchmal kann schon am Telefon alles geklärt werden. Am Anfang wurde ich nicht immer ernst genommen, das lag auch an meinem Deutsch. Von Fachbegriffen in der fremden Sprache hatte ich keine Ahnung. Inzwischen habe ich ein bisschen Respekt gewonnen. Aber es kommt immer wieder vor, dass ich Schwierigkeiten habe. Meistens dann, wenn ich selbst das Problem nicht erkenne. Dann kann ich stundenlang im Amt sitzen. Der Fallmanager von der Bundesagentur für Arbeit sagt mir immer wieder das eine, ich immer wieder das andere. Dann muss ich zusehen, dass ich ihn überzeuge.
Meistens bleibe ich bis nachmittags fünf, sechs Uhr in der Gemeinde. Gegen sieben bin ich zu Hause. Es ist sehr schwer, dann noch andere Sachen zu machen. Montags haben wir in der Gemeinde noch Sprachkurse, da bin ich auch immer dabei. Freitags aber komme ich schon gegen drei nach Hause, weil an dem Tag meistens nur Außentermine sind. Zweimal im Monat haben wir hier einen Gottesdienst, einmal kommt auch der Rabbiner. Da gehen wir selbstverständlich hin. Ansonsten machen wir unseren Schabbat immer zu Hause. Dabei war mein Mann die meiste Zeit seines Lebens gar kein Jude. Aber schon bei unserer Hochzeit hat er mir gesagt: Ich habe nicht nur dich geheiratet, sondern das ganze jüdische Volk. Vor zwei Jahren ist er übergetreten, er hat den jüdischen Namen meines verstorbenen Onkels angenommen. Ich bin sehr stolz auf ihn. Ich spüre, dass wir noch inniger sind, auch wenn es nur eine Formalität war.
Meine Kinder haben sich daran gewöhnt, dass ich kaum zu Hause bin. Sie essen Fastfood, immer Pommes und Pizza. Das ärgert mich. Denn ich koche gern – und gut. Das Frühstück für meine Kinder übernimmt mein Mann, weil ich immer bis zur letzten Sekunde schlafe. Man muss es sich eben gut aufteilen.
Vor allem deshalb, weil das Leben in der Gemeinde in letzter Zeit intensiver geworden ist. Wir haben im September die Synagoge eröffnet. Aber es ist noch weit mehr hier, es ist ein Zentrum. Hier treffen sich die Leute, nicht nur die aus der Gemeinde. Wir haben zahlreiche Gäste, auch zum Gottesdienst laden wir oft andere ein. Es gibt Führungen, Ausstellungen, Lesungen, Konzerte. Dadurch haben viele Leute endlich verstanden, dass die Juden keine Außerirdischen sind. Sie sehen, was wir machen. Und sie können alles fragen. Dadurch versteht man uns besser. In einer Zeit wie dieser ist das sehr wichtig. Auch wenn es nur kleine Schritte sind. Bei einer Führung hat mich einmal jemand gefragt, warum wir eine Mauer um die Synagoge haben. Ich habe lange darüber nachgedacht, dann habe ich gesagt: Es wäre mein Traum, bald keine Mauer mehr zu haben. Durch unsere Gespräche können wir eines Tages vielleicht alle Mauern überflüssig machen. Auch wenn ich mich mit deutschen Freunden treffe, stellen sie Fragen zum Judentum – immer. Auch wenn es nur ums Kochen oder um Rezepte geht.
Seit einem Jahr haben wir einmal im Monat in der Gemeinde ein Projekt, das wir Erzählcafé nennen. Es soll den Menschen, die direkt von der Nazizeit betroffen waren, die Möglichkeit geben, sich auszutauschen. Bei der ersten Begegnung vor einem Jahr kamen nur vier Personen. Beim zweiten waren es zehn, Ende des Jahres schließlich 35! Nach diesen Treffen kann ich nachts nicht schlafen. Am Anfang war es sehr schwer für die Leute, überhaupt darüber zu sprechen. Aber dann ging es plötzlich los, ohne Anstoß. Ein ehemaliger deutscher Soldat hat zum Beispiel erzählt, dass er mit 15 oder 16 Jahren eine jüdische Freundin hatte. Sie war seine Nachbarin, und es war seine erste Liebe. Er ist jetzt über 80. Manchmal sagt er mir, dass ich wie sie aussehe, wie seine Sara. Er war im Krieg, er war verheiratet, aber an dieses Mädchen hat er immer gedacht. Sie wurde ermordet. Ihr Name steht heute auf einem Denkmal in der Nähe des Bahnhofs.

Aufgezeichnet von Zlatan Alihodzic

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