Irina Gerschman

»Ich lerne die Provinz zu schätzen«

von Sabine Göb

Mit einem energischen Griff schnappt sich Irina Gerschman eine Trittleiter und pinnt einen riesigen blauen Papagei an die Wand. Der Vogel ist fast so groß wie sie und leuchtet im Eingang zu ihrer Kunstschule. Ihre Schüler haben das Tier zusammen ausgeschnitten und bemalt. Ein taxierender Blick, ob der Papagei auch gerade hängt, und mit einem lauten Klack klappt sie die Leiter wieder zusammen und geht zurück in ihr Atelier. Die 39-Jährige leitet seit knapp einem Jahr eine Kunstschule in Höchstadt an der Aisch, einer kleinen Stadt in Mittelfranken. Ihre Schüler kommen nachmittags und lernen von der studierten Malerin die Grundbegriffe von Perspektive und Farbenlehre, außerdem Sticken, Nähen und Modedesign. Irina Gerschmans eleganter schwarzer Jeansrock ist ebenso maßgeschneidert wie ihr mit eigenen Stickereien verzierter Pulli – kleine Extravaganzen für den genauen Blick.
Irina kam 1993 nach Deutschland. In Moskau hatte sie die Kunstakademie besucht und ihr Examen als Kunst-Meisterin und Modedesignerin mit Auszeichnung bestanden. »Ich war 15, als ich an die Fachschule für Dekoration und angewandte Kunst ging«, erzählt sie voller Stolz und erinnert sich an die Reise in die Großstadt. In ihrer Geburtsstadt Pawlodar im heutigen Kasachstan lebte sie nur kurz, dann zog sie mit ihren Eltern durch das halbe Sowjetreich. Weil ihr Vater als Kernphysiker beim Aufbau von Kraftwerken beteiligt war, lebte die Familie mal hier und mal da. »Inzwischen lerne ich gerade die Vorteile einer kleinen Stadt kennen«, sagt Irina und lacht.
Hier in der Provinz hat sie, als sie vor zwei Jahren kam, für wenig Miete große Räume in einer ehemaligen Schule bekommen, konnte ihr Atelier einrichten, hat genug Platz für ihre Kunstschule und die Nähmaschinen. Die Bedingungen handelte sie mit dem Bürgermeister persönlich aus – unbürokratisch, wie oft in der Provinz.
In Moskau hatte Irina sich ein Jahr lang auf ihre Ausreise vorbereitet und Deutsch gepaukt. »Dann bin ich hier zur Volkshochschule gegangen und habe Nähen und Stickerei unterrichtet, um mich zu integrieren.« Schließlich klang ihr Nachname für die neuen Landsleute nach einem deutschen Ehemann. »Es fiel mir leicht, meine Hemmungen abzulegen.« Sie stutzt. »Ich weiß gar nicht, ob ich jemals Hemmungen hatte.« Fast kokett sitzt sie da und schüttelt kurz ihre dunkle Mähne, die braunen Augen blitzen schelmisch.
»Ich dachte damals, meine Bilder sind toll – heute bin ich sehr kritisch.« Bilder, die in starken Farben Geschichten erzählen und die sie selbst im fernen München erfolgreich ausstellt und verkauft. Ein Zyklus heißt »Glaube und Tradition«, ein anderer »Familienwagen«, Erinnerungen an ihre Familie, an Moskau, an die Kindheitstage in Odessa mit den Großeltern. »Meine Urgroßeltern sind nach dem Ersten Weltkrieg in die falsche Richtung gegangen, von Berlin in die Ukraine«, erzählt Irina. Die aus der Ukraine stammende Urgroßmutter war nach der Geburt des ersten Kindes in Berlin so unglücklich, dass sie wieder nach Hause wollte.
Bei den Unterhaltungen der Großeltern hörte Irina Gerschman Jiddisch und lernte es schnell, obwohl Großvater und Großmutter streng darauf achteten, dass keiner den verräterischen Akzent übernahm. Irinas Vater bekam trotz der angespannten Lage während der stalinistischen Zeit den Vornamen Moses, auf russisch Mojsej. »Durch das Jiddische habe ich leichter Deutsch gelernt«, sagt Irina.
Ihre Zimmernachbarin im Studentenwohnheim erklärte ihr eines Tages, dass sie eigentlich Juden nicht ausstehen könne, aber Irina finde sie nett. Irina Gerschman war klar, dass sie sofort nach dem Studium zusammen mit ihrem damaligen Mann gehen würde. Scharf beobachtete sie, wie der Antisemitismus nach dem Zerfall der Sowjetunion aggressiver wurde und sich auch manche Freunde veränderten. Sofort nach der letzten Prüfung, noch ohne Zeugnis, packte Irina die Koffer.
Zuerst ging sie mit ihrer Mutter nach Bochum. Sie entwarf eigene Kollektionen, hatte Aufträge großer Firmen, sechs Näherinnen angestellt. Sie pendelte zwischen den Modemessen und -schauen, reiste viel. 1999 wurde Irinas Sohn Leo geboren. Der Spagat zwischen Kunst, Mode und Kind wurde zu anstrengend, so dass sich Irina selbstständig machte. »Da kann ich auch nachts arbeiten, wenn mein Sohn schläft.« Ihm verdanke sie die Kunstschule, meint sie lächelnd. Er kann schnell die paar Hundert Meter zu Fuß zu ihr ins Atelier kommen, wenn er Sehnsucht nach seiner Mama hat. Ihr momentanes Leben bezeichnet Irina als ruhige Phase, die sie sehr genießt.
Inzwischen ist Leo acht Jahre alt und gern gesehener Gast, wenn seine Mutter ihre Schnittmuster zur Endbesprechung in die Mode-Firmen bringt. »Er ist ein richtiger Kosmopolit«, sagt Irina. »Sein Vater ist russisch-orthodox, ich bin Jüdin, sein Kindergarten war katholisch, und jetzt geht er in eine evangelische Schule.« Irina möchte, dass Leo die jüdischen Traditionen kennenlernt, sie selbst ist Mitglied der jüdischen Gemeinde im benachbarten Erlangen. Am Schabbat zündet sie die Kerzen an, wie sie es bei ihrer Großmutter gesehen hat.
Inzwischen sind die Schülerinnen leise ins Atelier gekommen. Irina stellt mit geübtem Griff die Staffeleien in den richtigen Abstand zu einer Blumenvase mit roten Tulpen, die sie heute zeichnen sollen. Rebekka und Julia rücken das Aquarellpapier zurecht und nehmen die Kreiden zur Hand. »Auch für Anfänger ist es wichtig, die Grundlagen zu kennen«, sagt Irina streng und schiebt die Staffeleien auf die richtige Höhe. Basiswissen des akademischen Zeichnens und Malens, über Künstler und Kunstgeschichte vermittelt sie ihren Klassen. An der Wand hängt ein Tuch, an dem die Schüler den Faltenwurf zeichnerisch erfassen müssen, gegenüber steht der Torso eines griechischen Diskuswerfers als Modell. Draußen vor dem Fenster geht langsam die Sonne unter an diesem lauen Wintertag, drinnen macht sich eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre breit, und Irina Gerschman flüstert der 15-jährigen Miriam in wenigen Worten ins Ohr, was es mit der perspektivischen Verkürzung auf sich hat.
Ihrem Sohn Leo erklärt sie das am liebsten hautnah anhand der großen Meisterwerke im Puschkin-Museum – für sie einer der wenigen Punkte, die für ein Leben in der Großstadt sprechen würden. »Heimweh habe ich nur nach den Moskauer Museen – das war’s.«

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