Inge Deutschkron

»Ich glaube nur an mich«

von Ayala Goldmann

In Inge Deutschkrons Badezimmer liegt eine Holzbürste mit schwarzen Borsten. Dreht man sie um, lassen hell gefärbte Borsten in der Mitte einen Namen erkennen: »Inge«. Es ist nicht irgendeine Bürste. Hergestellt wurde das Stück in der Blindenwerkstatt Otto Weidt, wo Inge Deutschkron während der NS-Zeit als jüdische Zwangsarbeiterin beschäftigt war. Der Bürstenfabrikant Weidt hatte Deutschkron und andere Juden unter Einsatz seines Lebens vor der Deportation geschützt. Die Bürste im Bad stammt allerdings aus neuerer Produktion: In der Blindenwerkstatt in der Rosenthaler Straße, wo auf Betreiben der Journalistin ein Museum eingerichtet wurde, können Kinder und Er-
wachsene lernen, wie Bürsten gemacht werden. Ein Mitarbeiter des Museums schenkte Inge Deutschkron sein »Gesellenstück«.
Nach Jahren des Pendelns zwischen Tel Aviv und Berlin lebt die Journalistin, die am 23. August 1922 in Finsterwalde geboren wurde, heute dauerhaft in Charlottenburg. Im dünnen, luftigen Sommerrock und T-Shirt, leger gekleidet, aber sorgfältig geschminkt, empfängt sie Interviewerin und Fotograf. Mit ihrer tiefen Stimme und ihrer temperamentvollen Art gewinnt sie Zuhörer schnell für sich. Fotografiert zu werden, passt ihr dagegen nicht ins Konzept: Sie hasse es, angestarrt zu werden, sagt sie – es erinnere sie an die Zeit, als sie mit dem gelben Stern durch Berlin gehen musste. Abgesehen davon findet Inge Deutschkron, von ihr gäbe es schon genug Bilder. »Mit 85 nehme ich doch an keinem Schönheitswettbewerb mehr teil. Was soll der Quatsch?« Man kann sich leicht vorstellen, bei einem Streit mit der ausgebufften Journalistin den Kürzeren zu ziehen. Doch in ihrem ruhigen Wohnzimmer, die Bücher ihres Vaters im Hintergrund, nehmen ihre Widerborstigkeit, gepaart mit Direktheit und Charme der »Berliner Schnauze«, sehr für sie ein – wie auch das Lebenswerk eines Menschen, der Schweres zum Besseren wenden konnte, indem er andere an seinen Erfahrungen teilhaben lässt.
Bekannt ist Inge Deutschkron vor allem wegen ihres Buches »Ich trug den gelben Stern«. Darin erzählt sie, wie sie und ihre Mutter als »U-Boote« in Berlin die Verfolgungen überlebten. Das Buch erschien in über 20 Auflagen, das Theaterstück »Ab heute heißt du Sara«, eine Adaption des Buches, wurde am Grips-Theater seit 1989 fast 300-mal gespielt. Das Theaterstück von Volker Ludwig war der Anlass, warum Deutschkron nach mehr als 15 Jahren in Israel wieder nach Deutschland zog: Nach der Premiere bekam sie so viele Anfragen von Lehrern und Schülern, über ihr Leben zu erzählen, dass sie nach ihrer Pensionierung bei der Tageszeitung »Maariv« in Israel eine neue Aufgabe sah. »So bin ich zum Pendler zwischen zwei Welten geworden und mache mir vor, dass die Schönheit einer jeden mein Leben erfüllt«, schreibt sie in ihrem Buch »Leben nach dem Überleben«. Doch vor etwa fünf Jahren wurde ihr der ständige Wechsel zu viel. Seitdem hat sie sich in Berlin eingerichtet. »Berlin war nie so ›Nazi‹ wie die anderen Städte in Deutschland, das sehen Sie noch an den Wahlergebnissen von 1932. Davon abgesehen, es gibt in keiner Stadt so viele Menschen, die überleben konnten mit der Hilfe anderer. In meinem Falle waren es 20 Berliner Familien, die dazu beitrugen, dass meine Mutter und ich überleben konnten. Das kann man auch nicht vergessen«, sagt die Journalistin. In keiner anderen Stadt erlebe sie so viel Resonanz unter jungen Menschen auf ihr Buch, das Theaterstück und natürlich die Ausstellung in der Blindenwerkstatt. Für die Zukunft plant sie eine »Inge-Deutschkron-Stiftung«, die in Berlin Theaterstücke gegen Rassismus unterstützen soll.
»Ich bin sehr kämpferisch erzogen worden«, sagt Inge Deutschkron über sich selbst. Ihr Vater, ein Lehrer, wurde als Sozialdemokrat bereits 1933 aus dem Schuldienst entlassen. Von ihrem Judentum erfuhr sie erst mit etwa zehn Jahren. »Und da ich damals schon völlig ohne Religion erzogen wurde, ist nie was dazugekommen. Außer, dass ich natürlich während der schrecklichen Zeit die Nase hoch getragen habe.« Der Vater konnte kurz vor Kriegsausbruch nach England emigrieren, während Inge und ihre Mutter in Deutschland ums Überleben kämpften. Sechs Jahre lang bestand der Kontakt zum Vater nur in kurzen Briefen. 1946 waren sie und ihre Mutter nach England gereist, wo Deutschkron mehrere Jahre als Sekretärin für die Sozialistische Internationale arbeitete. Doch über persönliche Dinge spricht Deutschkron eher ungern. Die Frage, ob es ihr später in Israel schwergefallen sei, als Frau alleine zu leben, beantwortet sie mit einem kurzen »Nö«. Lieber erzählt sie kichernd, wie ihre Bekannten ständig versuchten, doch noch eine »gute Partie« für sie zu finden – zum Beispiel einen ordentlich verdienenden Zahnarzt.
Inge Deutschkrons Karriere als Journalistin ist ungewöhnlich: 1955 wurde sie, obwohl sie kein Wort Hebräisch sprach, Deutschland-Korrespondentin der israelischen Tageszeitung »Maariv«. Sie schrieb auf Englisch, ihre Texte wurden in Tel Aviv übersetzt. Sie beobachtete den Auschwitz-Prozess in Frankfurt und berichtete später in Israel über Nahost-Friedensverhandlungen. In Bonn litt Deutschkron sehr darunter, dass viele hochrangige Posten in Ministerien mit alten Nazis besetzt waren. Fast noch mehr litt sie unter der Tendenz, diese Tatsache unter den Teppich zu kehren. Sie selbst ging keiner Auseinandersetzung aus dem Weg: Bei einer Karnevalsveranstaltung im Bonner Presseclub ohrfeigte sie 1960 einen Kollegen, der sich ihrer Ansicht nach als »Jude« verkleidet hatte, obwohl der Journalist das später bestritt: »Er behauptete, er wollte einen griechischen Teppichhändler darstellen. Was natürlich völliger Quatsch war, er hatte so einen Umhang wie einen Tallis und auch noch ein Käppchen auf und er redete auch so, mit den Händen, was man immer den Juden so andichtet. Und ich konnte es einfach nicht ertragen. Ich habe ihm einfach ein paar in die Fresse gehauen«, sagt sie und lacht. Unter deutschen Kollegen machte der Vorfall sie nicht beliebter. Zuhause fühlte sich Deutschkron nur bei Asher Ben-Natan, der 1965 als erster israelischer Botschafter in die Bundesrepublik kam und sein Haus in eine Art »Kibbuz« verwandelte. Die familiäre Atmosphäre dort war es auch, die Deutschkron den Anstoß zur Einwanderung nach Israel gab – abgesehen vom zunehmenden Anti-Israelismus bei der deutschen Linken. Doch auch nach ihrer Übersiedlung nach Israel 1972 blieb sie Individualistin, lernte privat Hebräisch (»der Ulpan war nichts für mich, da wird man zum Papagei erzogen«) und rieb sich an den Vorschriften der Einwanderungsbürokratie.
Inge Deutschkron zieht keine Vergleiche zwischen 1933 und der heutigen Zeit. Die Demokratie in Deutschland hält sie für stabil genug, mit Neonazis fertig zu werden: »Wenn man darauf achtet, dass die Jugend informiert ist und die Symptome erkennt, dann können wir beruhigt sein.« Mitglied in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ist die säkulare Jüdin nicht: »Ich sage immer, ich glaube nur an mich. Und dazu habe ich allen Grund.« Am 23. August wird Inge Deutschkron 85 Jahre alt.

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