Erinnerung

Gedenken in Gardelegen

von Marcus Franken

In Gardelegen frisst das Moos sich in die Zementfassungen von 1.016 Gräbern und macht den Bürgermeister unglücklich. Konrad Fuchs, SPD, steht zwischen den Gräbern der Gedenkstätte »Isenschnibber Feldscheune« und schaut betrübt über die Anlage aus DDR-Zeiten, die an die Ermordung von KZ-Insassen erinnern soll. Der alte Beton bröckelt. »Wir hätten hier gerne Kreuze und Rasen gehabt. Das wäre leichter zu pflegen«, sagt er resigniert. Aber bei Gedenkstätten zählt nicht das Praktische, sondern ist die Symbolik alles. Zuerst ist die Idee mit den Kreuzen auf grünem Rasen durchgefallen. Dann der Ärger, weil die neuen Info-Tafeln für die Gedenkstätte seit Jahren überfällig sind.
Und jetzt auch noch die Strafanzeigen! Der städtische Museumsleiter Herbert Becker hat 13 ehemalige KZ-Häftlinge wegen Mithilfe an dem Massaker von Gardelegen angezeigt. Fuchs hat ihn nicht gebremst. Zeitungen und das Fernsehen haben sich seitdem durch den Ort interviewt. Unfähigkeit ist noch der mildeste Vorwurf. Opferverbände vermuten Revanchisten im Ort. Und der Hobbyhistoriker Becker hat sich zum Feind seiner professionellen Kollegen gemacht. Aber bisher hat niemand so richtig verstanden, was die Gardelegener eigentlich umtreibt. Nicht mal der Bügermeister: »Fragen Sie Becker, was er sich dabei gedacht hat«, sagt Fuchs.
Gardelegen ist ein zufriedener Ort in Sachsen-Anhalt. Unter dem Turm des Rathauses drängeln sich die sanierten Fachwerk- und Bürgerhäuser. Hinter Wassergräben breitet sich die Neustadt aus, und in den Feldern liegen blitzblanke Fabriken, die nach der Wende gebaut wurden: Autozulieferer, die VW-Werke in Wolfsburg sind keine 50 Kilometer entfernt. Gardelegen geht es so gut, wie es einem Ort mit 15 Prozent Arbeitslosigkeit nur gehen kann. Vor einigen Jahren hat die Stadt sogar wieder eine Roland-Statue auf dem Markt aufgestellt. »Wir versuchen, uns auch touristisch zu platzieren«, sagt Fuchs in ratsamtlicher Diktion. Er schaut nach vorne, während ihn die Geschichte einholt.
Der Mann, dessen Anzeigen Gardelegen in Verruf gebracht haben, sitzt in seinem engen Büro in den Hinterräumen des Stadtmuseums, das er leitet: Neben den Waagen, Flaschen und Kupferkesseln einer alten Apotheke stellt er hier angelaufene Fotos aus. Herbert Becker ist 52 Jahre alt, hat einen Walrossbart, wirres Haar und trägt schwarze Socken in den Sandalen. Der Mann wirkt eher wie ein Kauz und nicht wie eine Gefahr. Seine Sturheit hat ihn inzwischen die Leitung der Gedenkstätte gekostet und könnte ihn auch um seine Halbtagsstelle als Museumsleiter bringen. »Becker ist selbst als Leiter des Stadt-Museums untragbar«, schimpft Jens Christian Wagner, der Chef der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Mittelbau-Dora. Becker sei beratungsresistent und habe sich als Historiker selbst entmündigt.
Anfang April 1945 hatten die Nazis begonnen, Zwangsarbeiter der unterirdischen Raketen- und Flugzeugwerke Mittelbau-Dora in andere KZs zu verlegen. Ein Zug mit Häftlingen strandete in der Nähe von Gardelegen: Rund 1.100 Kriegsgefangene aus ganz Europa, darunter wenige Deutsche, Juden und Sinti, wurden in die Stadt getrieben. Der Fußmarsch der Häftlinge führte über das Kopfsteinpflaster am Rathaus vorbei. »Meine Mutter hat mich geweckt und mir diese armen Menschen gezeigt«, erinnert sich Ulrich Grau, ein gemütlicher Mann mit Strohhut, der Blumen und selbst gezogene Tomaten auf dem Wochenmarkt verkauft. Grau war damals sechs Jahre alt. Abgerissen, halb verhungert und verdurstet zogen die Häftlinge durch das Städtchen. Das Geräusch der Holzschuhe auf dem Kopfsteinpflaster hat sich ins Gedächtnis gebrannt. Die Älteren in Gardelegen erzählen immer noch davon.
Die SS brachte ihre Gefangenen in einer Schule der Wehrmacht unter. Mit den amerikanischen Truppen in Sichtweite, entschieden SS, Wehrmacht und NSDAP-Kreisleiter Gerhard Thiele, die Gefangenen in eine massive Scheune außerhalb der Stadt zu sperren und die Scheune anzustecken, um die Gefangenen zu verbrennen. Daran beteiligten sich auch Volkssturm-Leute aus Gardelegen. Das Massaker in der Feldscheune des Gutes Isenschnibbe ist eines der brutalsten Verbrechen am Ende des Krieges. Verübt an wehrlosen Gefangenen. Und durch die Nachforschungen der US-Armee gut dokumentiert.
»Wenn man das liest, wird einem übel«, sagt Herbert Becker, der umstrittene Historiker der Stadt. Aufgeregt, als würde er das erste Mal davon reden, beschreibt er die sadistischen Details: Wie der SS-Offizier Feuer gelegt hat und – als Panik die Menschen in der Scheune erfasste – die Tore wieder öffnen ließ, damit Wehrmacht und SS mit schweren Maschinengewehren, Panzerfäusten und Handgranaten auf die Menschen schießen konnten, die sich an den Ausgängen drängelten. Becker spannt die Unterarme an, dass sich die Muskeln abzeichnen und presst die Hände gegeneinander. Das Massaker lässt ihn nicht mehr los, seit er die Details vor 31 Jahren von seinem Vater erfahren hat.
Der Vater, Rudolf Becker, hatte als junger SPD-Mann im Untergrund gegen die Nazis gekämpft. Bis er gefasst, vor dem Volksgerichtshof abgeurteilt wurde und für sechs Jahre ins Zuchthaus kam. In der DDR brachte ihm das den Status »Verfolgter des Naziregimes« ein. Becker war ein »VVNler« und damit Teil der moralischen Legitimation der DDR: das antifaschistische Land, das die richtigen Konsequenzen aus der Hitler-Zeit gezogen hatte, während die Nazis in den Westen gegangen waren und schon wieder Staat machten.
Als »VVNler« erlebte Rudolf Becker zunächst einen steilen Aufstieg und brachte es bis zum Ministerialdirektor. Dann kam der Absturz. 1951 säuberte die stalinistisch gestimmte SED ihre Reihen von alten Sozialdemokraten. »Da wurde erst beschlossen, dass man gegen bestimmte Leute vorgeht. Dann hat man etwas konstruiert«, erzählt der Sohn. Vor den Gerichten war keine Gerechtigkeit zu finden. Gerüchte reichten, um den Vater ins Zuchthaus »Roter Ochse« zu bringen, jene Hallenser Untersuchungshaftanstalt, die die Stasi von den Nazis übernommen hatte. Im Arbeitslager Volkstedt musste er im Kupferbergbau schuften. Erst 1953 hat die DDR Rudolf Becker freigelassen und rehabilitiert – still und heimlich. Der Vater bekam noch einen Trostbrief des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl: Als Genosse, schrieb der Ex-SPD Chef, habe er sicher Verständnis für die kleinen Fehler in der großen sozialistischen Revolution. »Wo gehobelt wird, fallen Späne«, zitiert Herbert Becker und lacht dabei höhnisch. Genau wie damals der Vater, der den Brief oft laut vorlas. Und ihn dann weggeworfen hat. Rudolf Beckers Kinder durften über die Zeit des Vaters im Knast nicht reden. Ein Bruder konnte nicht studieren. Und der Vater hat den Rest seines Lebens als Lagerarbeiter verbracht. Herbert Becker hat diese Geschichte bis heute fast niemandem erzählt. Die Wunde ist nie verheilt.
Gedemütigt vom System, ließ Rudolf Becker es sich nicht nehmen, bei den antifaschistischen Aufmärschen der DDR an der Isenschnibber Feldscheune vorneweg zu marschieren. Trotzig. Doch irgendwann begann er, sich an dem propagandistischen Mummenschanz der Aufzüge zu stören. »Allein diese animalische Sprache«, sagt Herbert Becker heute, »da ist immer die Rede von imperialistischen Bluthunden« und der »menschenverachtenden Fratze des Militarismus« und den »SS-Bestien«. Aber nie Fakten, »nur Propaganda –Schmäh«.
Am Eingang der Gedenkstätte steht heute noch, dass hier »1.016 antifaschistische Widerstandskämpfer von den Faschisten bestialisch ermordet wurden«. Denn vom SED-Staat wurde jeder einzelne Tote in der Scheune, diese Zufallsgemeinschaft der Zwangsarbeiter, als Antifaschist vereinnahmt. Die DDR machte den Friedhof zum Aufmarschplatz. An den Gräbern der Toten von Gardelegen ließ sie Jungpioniere und Soldaten antreten: Im Angedenken an die Ermordeten wurden die Jungen für die DDR begeistert.
Alte SED-Genossen wie Paul Schmidt, Mitglied des Fördervereins der »Isenschnibber Feldscheune«, sehen das immer noch so und möchten die Gedenkstätte darum genau so erhalten, wie die DDR sie erschaffen hat. Feuerfackeln, alte Inschriften und Grabsteinkanten inklusive. Schmidt ist immer noch davon überzeugt, dass der Faschismus nur das wahre Gesicht des Kapitalismus war. Und die DDR der bessere Staat. Auch besser als die heutige kapitalistische BRD, wo nur noch wenige Menschen die Gedenkstätte besuchen. Stolz betont er, dass er als Kreisschulleiter immer dafür gesorgt hat, dass praktisch alle Schüler die regelmäßigen Aufzüge an der Gedenkstätte besuchten. 35.000 Menschen sollen bis 1990 jährlich zur Gedenkstätte gekommen sein.
Rudolf Becker stieß diese glatt gestrichene DDR-Propaganda bald auf. Da er sich selber nicht mehr unbeliebt machen wollte, gab er das gesammelte Archiv-Material dem Sohn zu lesen und vermachte es 1976 dem kleinen Stadtmuseum, wo Herbert Becker es als Leiter 1999 wieder entdeckt hat. »Ich sammle seit 1999 alle Dokumente aus internationalen Archiven«, sagt Herbert Becker. Alles, wirklich alles habe er vier bis fünf Mal gelesen. Alle diese schwer zu entziffernden Kopien alter amerikanischer Berichte und Zeugenbefragungen, bei denen die Schriften vom vielen Kopieren längst ineinander zerflossen sind. Becker kennt jedes Detail des Massakers, minutiös. Es gibt für ihn auch keinen Zweifel daran, dass SS, Wehrmacht und Kreisleiter Thiele die volle Schuld an dem Massaker tragen.
Bei einigen »volksdeutschen« Funktionshäftlingen, die in der Hoffnung, ihr Leben zu retten, in deutsche Uniformen geschlüpft sind, hat er Zweifel, dass sie sich wirklich beteiligt haben. Bei anderen will er die Gerichte untersuchen lassen, ob sie doch Schuld auf sich geladen haben. Dass die Mehrzahl der Historiker den Funktionshäftlingen eine Zwangssituation attestiert, weiß Becker. Er ist auch nicht unbedingt von ihrer Schuld überzeugt. Aber seinen Vater haben sie damals mit Gerüchten in den Knast gebracht. Herbert Becker will nichts mehr in die Welt setzen, das nicht bewiesen ist. Nur noch »Fakten, Fakten, Fakten«. Und keine Aussagen über Leute mehr, die nicht rechtsstaatlich verurteilt wurden.
»Die rechtsstaatlichen Möglichkeiten dieses Staates sind fantastisch«, sagt er euphorisch. Darum sollen die Gerichte die 60 Jahre alten Zeugenprotokolle noch einmal durchgehen, die Indizien sichten, Zeugen befragen, wenn sie noch leben. Denn Becker hat kleine Fehler in den kaum lesbaren Berichten der Amerikaner entdeckt. Die Gerichte sollen jetzt feststellen, wen man Täter und wen Opfer nennen muss. Darum die Anzeigen gegen die alten Häftlinge. »Man sollte sich als Person nicht höher stellen als den Rechtsstaat«, sagt er. Und er selbst sei als Stadthistoriker ja quasi der Staat selber: »Ich bin im Status der staatlichen Verkündigung und stehe vor der Aufgabe, im Namen des Staates in Stein zu meißelnde Aussagen über das Massaker vorzuschlagen,« umreißt er seine Mission.
Bürgermeister Konrad Fuchs hat den ehemaligen Journalisten und heutigen Stadthistoriker jahrelang gewähren lassen. Weil er an »das Gute im Menschen glaubt«, wie er sagt. Aber wohl auch, weil er gehofft hat, dass die Stadt so kostengünstig an eine Neugestaltung der Gedenkstätte kommt. Inzwischen gibt er sich zerknirscht und distanziert sich vom Treiben seines Museumsleiters. Die Leitung der Gedenkstätte hat er Becker entzogen. Der Hobbyhistoriker darf nicht mal mehr Gruppen auf dem Gelände führen. Die Betreuung und die Kosten der »Isenschnibber Feldscheune« hat das Land Sachsen-Anhalt übernommen.
www.gardelegen.info

Capri

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