Marat Karasik

»Für Heimweh bleibt keine Zeit«

Berlin-Mitte, sagen die Leute, gehe nie schlafen. Da hat wohl jemand ein bisschen übertrieben. Aber man kann tatsächlich jede Stunde fühlen, wie intensiv die Stadt lebt. Seit 15 Jahren sind wir hier zu Hause, und meine Frau Tamara pflegt gern zu sagen: »Heimat ist dort, wo du dich wohlfühlst.« Zum Wohlfühlen brauche ich nicht nur eine interessante Umgebung. Ich brauche auch Aufgaben, die mich fordern. Da kommt ganz verschiedenes in Frage, aber ohne Arbeit würde ich wohl verkümmern. Tamara ist Logopädin, und ich bin Elektriker von Beruf. Unsere Qualifizierungen haben uns wenig genützt, als wir 1993 von Minsk nach Berlin kamen. Nicht, dass wir schlechte Ausbildungen hätten, nein, es gab einfach keinen Bedarf, und so war es Zeit, neue Wege zu gehen. 1996 haben wir uns ein Herz gefasst und eine eigene Schuhmacher-Werkstatt in Berlin-Mitte gegründet, nicht weit vom Alexanderplatz. Für uns war das – wie man so schön sagt – der berühmte »Sprung ins kalte Wasser«, doch wir haben ihn überlebt.
In der Brunnenstraße herrscht emsiges Kommen und Gehen: Geschäfte öffnen und schließen, im Handumdrehen kommen neue hinzu – und ziehen in Windeseile schon wieder um. Wenn man es genau nimmt, ist unsere Werkstatt eine der wenigen Konstanten hier. Seit zwölf Jahren wurzeln wir an der gleichen Stelle. Am Anfang gab es nur die Schusterei, dann haben wir Schritt für Schritt erweitert: Änderungsschneiderei, Reinigungsservice, Sattlerei und Schlüssel-Notdienst sind dazugekommen. Das stellt das Geschäft auf sicherere Beine, aber jede Woche ist straff strukturiert. Freizeit beschränkt sich auf ein paar Stunden am Wochenende.
Unsere Kundschaft ist multikulturell und multinational: Viele sind russisch- und deutschsprachig, daneben kommen Polen, Italiener, Portugiesen, Türken, Araber und Afrikaner. Manche der Kunden wirken sehr gut situiert, andere müssen vermutlich jeden Cent umdrehen. Einmal bat uns eine ältere Frau um Hilfe, die einen Schlaganfall erlitten hatte und nun auf Krücken angewiesen war. Sie schämte sich aber in der Öffentlichkeit und wollte lieber einen unauffälligen Schirm als Gehstock nutzen. Wir haben ihren Schirm mit einer robusten Gummispitze versehen – eine fast perfekte Gehhilfe, mit der sie überall gut aufsetzen kann. Als das gute Stück fertig war, wollte die alte Dame vor Freude fast tanzen.
Des Öfteren begrüßen wir die »Last-Minute-Kunden«, die fünf vor sechs am Abend auf der Türschwelle stehen. Natürlich bringen sie einen »absoluten Notfall« in Schuh, Hemd oder Hose mit, müssen aber am gleichen Abend noch ins Theater oder zum Empfang. Manchmal lassen wir uns dann auf eine Sofort-Reparatur ein, und plötzlich ist es halb acht, und der Abend eigentlich gelaufen. Und dann gibt es n0ch Kunden, deren Herz unsterblich an Dingen hängt, wo aber jegliche Reparatur nur Zeitverschwendung bedeutet. Doch jeder kennt den Schmerz und Widerwillen, sich von einem liebgewonnenen Kleidungsstück nach langer Zeit trennen zu müssen. Also schauen wir auch hier, was sich vielleicht retten lässt. Tischler, Fahrradmechaniker oder Uhrmacher werden in ihrem Alltag wohl Ähnliches erleben.
Die Änderungsschneiderei ist das Königreich meiner Frau. Mit einem goldenen Händchen und kreativen Schnitten bereitet Tamara viel Freude. Das hat auch damit zu tun, dass sie als junges Mädchen eine Kunstschule in der Ukraine besucht hat. Wer allerdings glaubt, dass uns das Schuhmacher-Glück fast aus dem Nichts zugefallen wäre, der irrt gewaltig. Es ist ein schönes, aber auch anstrengendes Handwerk. Glücklicherweise hatten wir einheimische Freunde an der Seite, die uns bei den ersten Schritten sehr geholfen haben. Trotzdem war der Anfang eine echte Kraftprobe. Tagsüber haben wir einem guten Freund, selbst Schuster von Beruf, über die Schultern geschaut und die ersten eigenen Arbeiten angefertigt. Nachts haben wir die deutschen Fachbegriffe des Schuster-Handwerks gepaukt. Geschickte Hände braucht man schon, daneben muss man Ausdauer haben und natürlich ein offenes Ohr für die Kunden.
Die Begegnungen im Geschäft bringen es mit sich, dass man seine Lebensgeschichten mit anderen Zuwanderern austauscht, sich auch darüber unterhält, weshalb man die alte Heimat verlassen hat. Dass wir von Weißrussland nach Deutschland ausgewandert sind, hatte sehr viel mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 zu tun. Minsk liegt nur etwa 350 Kilometer von Tschernobyl entfernt, und mit Entsetzen haben wir Jahr für Jahr miterlebt, wie sich im eigenen Bekanntenkreis Krebs- und andere strahlenbedingte Erkrankungen häuften. Meine Eltern waren dann die Ersten, die ihre Sachen packten und 1991 nach Berlin gingen. Zwei Jahre später haben wir sie dort besucht und dann spontan entschieden, gleich bei ihnen zu bleiben. Tochter und Sohn kamen wenige Jahre später mit ihren Familien hinterher.
Niemand von uns hat den damaligen Entschluss bereut. Und vom weitverbreiteten Klischee, die Deutschen seien kühl, penibel und humorlos, halten wir nicht viel. Im Gegenteil: Wir konnten uns auch unter den Einheimischen einen erfrischenden Freundeskreis aufbauen. Unsere größte Freude aber ist, dass die Familie so eng zusammenhält. Für unsere Kinder waren die ersten Jahre in Deutschland ebenfalls kein Zuckerschlecken. Sie mussten neue, teils ungewisse Wege gehen. Lustigerweise hat unser Sohn Vladik jetzt auch eine Schuhmacher-Werkstatt. Sie liegt im Westteil der Stadt und läuft ebenfalls nicht schlecht. Eine seiner Spezialitäten ist die Reparatur von exotischen Lederwaren, viele seiner Kunden kommen aus orientalischen Ländern. Vladik hat eine künstlerische Ader, die ihm bei der Arbeit zugute kommt. Aber es hätte auch gut sein können, dass er heute in der europäischen Politik zu finden wäre. Er hat jahrelang an der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität in Minsk studiert, die drauf und dran war, eine neue, europäisch denkende Elite für Weißrussland hervorzubringen. Dann kam Lukaschenko an die Macht, und der hielt diese Universität für überflüssig. Vladik hat in Minsk auch eine solide Musikerausbildung genossen, deshalb spielt er mehrere Instrumente hervorragend. Das kommerzielle Musizieren mag er aber weniger. Er spielt viel lieber ungezwungen für Freunde – oder wenn ihm gerade danach ist. Unsere Tochter Irina arbeitet im sozialen Bereich. In Minsk war sie am Institut für Augenchirurgie beschäftigt, hier in Berlin ist sie schon einige Jahre Krankenschwester im Jüdischen Seniorenheim. Die schönsten Momente erleben wir, wenn alle vier Generationen unserer Familie zusammenkommen. Mittlerweile haben wir vier Enkel.
Meine Frau Tamara fährt regelmäßig nach Minsk, denn ihre Schwester wollte in Weißrussland bleiben. Und umgekehrt kommt oft Besuch aus der alten Heimat. Natürlich beschäftigt es uns, wie es den zurückgebliebenen Bekannten und Kollegen heute geht. Aber für Heimweh und Nostalgie bleibt eigentlich keine Zeit. Ich denke, die meisten ausgewanderten Freunde empfinden das ebenso – egal, ob sie nun nach Jerusalem, Boston oder Berlin gegangen sind.

Aufgezeichnet von Olaf Glöckner

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