Jom Haschoa

Für die Lebenden

von Gisela Bauer

Justin Sonder ist ein wenig verwundert. »Um diese Zeit lädt man in Deutschland eigentlich nicht ein«, begrüßt der alte Chemnitzer die Gemeindevorsitzende Ruth Röcher. Sonder ist trotzdem ins Jüdische Gemeindezentrum an der Stollberger Straße gekommen – an diesem Frühlingstag zur besten deutschen Mittagessenszeit. Er ist kein Gemeindemitglied, doch die nationalsozialistischen Verbrechen betreffen den Auschwitz-Überlebenden unmittelbar. So nimmt er in einer der hinteren Reihen Platz, während sich der Gemeindesaal mit vorwiegend älteren Menschen füllt.
Mit einem szenischen Programm gestalten die Gemeindemitglieder die Gedenkstunde komplett selbst. Es ist das erste Mal, dass in der vorwiegend aus Zuwanderern bestehenden Gemeinde der Jom Haschoa begangen wird. Der Chor sowie Erwachsene, Jugendliche und Kinder haben ein berührendes Programm einstudiert, das die Tragödie der Schoa vor Augen und Ohren führt, so wie sie die Juden in Osteuropa ertragen mussten.
Die dunklen Fenstervorhänge verbannen den Sommer nach draußen, der 20-köpfige Chor schmettert ein »Herzlich willkommen« in den Saal, der Bühnenvorhang öffnet sich und gibt den Blick auf eine Familie frei: Es ist Schabbat, jäh unterbrochen durch ferne Befehle, Schüsse, Hundegebell. Der Feind kommt mit dem Krieg, es folgen Deportation und Vernichtung. »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland«, sagt das Dichterwort. Was wie Theater mit herzlichem Beifall für Chor, So- listen und Rezitatoren beginnt, wird bittere Dokumentation bis zum Resümee: »Das Volk ist dahingemetzelt.« Ermordet sind Ärzte und Anwälte, Lehrer und Handwerker, Arbeiter und Hausfrauen.
Während hebräische und deutsche Lieder, Texte und Gebete, wie alles in der Chemnitzer Gemeinde, synchron in Russisch wiedergegeben werden, bedarf es bei dieser Aufzählung auf Deutsch keiner Übersetzung. Als die in den Tod getriebenen Juden in Form eines Schattentheaters über die Bühne huschen, herrscht bedrückende Stille im Saal. Das Gedenken erreicht seinen Höhepunkt mit der Verlesung der Totenzahlen, wie sie in Yad Vashem aufgelistet sind. Dabei wird für jedes Land Europas eine Kerze angezündet.
Dann holt der siebenjährige Sascha Gerwetz mit seiner klaren hellen Stimme die Teilnehmer zurück ins Heute, als er das russische Kinderlied »Immer lebe die Sonne« anstimmt, das die meisten mitsingen.
Nach 60 Minuten ist alles vorbei. Jetzt kann auch Inna Luchanskaja ihren Tränen freien Lauf lassen – Tränen der Freude über die gelungene und von ihr mit vorbereitete Veranstaltung und Tränen der Trauer, die sie hier an der Stollberger Straße noch nie gezeigt hat. Die heute 70-Jährige lebte in Kiew, als Deutschland die Sowjetunion überfiel. »Der Krieg und die Bomben waren schrecklich«, erinnert sie sich. Während ihr Großvater glaubte, von den Eindringlingen habe man nichts zu befürchten, bestand ihre Mutter darauf, dass die Familie in den Ural flieht und rettete sie. Seit 1997 lebt Inna Luchanskaja in Chemnitz. »Aus meiner Familie sind 27 Mitglieder gestorben«, sagt sie. Ihren zwei Töchtern und drei Enkelkindern erzähle sie davon, sie wollen und sollen wissen, was gewesen ist. Und die ehemalige Ärztin wünscht sich nichts sehnlicher, als dass die Menschen friedlich miteinander leben.
Auch Evelina Begeza hat in ihrer Familie oft vom Holocaust gehört. Ihr Großvater habe nach der Befreiung die Berge von Toten im Konzentrationslager gesehen. Seine Erzählungen seien ihr unter die Haut gegangen. Deswegen war es für sie keine Frage, als Rezitatorin mitzuwirken. »Die Toten brauchen das nicht mehr, aber die Lebenden«, sagt die 27-Jährige. Sie habe gefühlt, dass das Programm die Herzen erreichte, sagt die Mutter von zwei kleinen Söhnen. Der Fünfjährige sei bei den Proben oft dabei gewesen und habe Worte wie Krieg und Tod das erste Mal gehört. »Ich versuche ihm zu erklären, was das bedeutet. Auch die Kinder müssen es wissen«, meint die junge Frau aus Lettland, die seit 1997 in Chemnitz lebt. Das unterstreicht auch Ruvim Bakman, der im feinen grauen Anzug und weißen Hemd im Chor mitgesungen hat. Der weit über 70-Jährige spricht meist nur jiddisch, doch wenn er in Chemnitzer Schulen aus eigenem Erleben im KZ Petschora über den Holocaust berichtet, »dann verstehen mich die deutschen jungen Menschen«, sagt Bakman.
Die Religionslehrerin Ruth Röcher, die seit zwei Jahren auch Gemeindevorsitzende ist, hatte die Anregung zu Jom Haschoa in Chemnitz gegeben. Der aus der Sowjetunion herrührende Tag des Sieges am 9. Mai sei berechtigt ebenso wie der internationale Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Doch Ruth Röcher meint auch, dass die wenig mit dem Judentum vertrauten Zuwanderer aus Osteuropa diesen ihren Gedenktag begehen sollten. »Sie finden hier keine Familie, die nicht von der Schoa betroffen war«, ist sie sicher.
Dass der seit 1959 in Israel gesetzliche Gedenktag in Chemnitz erst jetzt begangen wurde, hat zum Teil auch pragmatische Gründe. »Wir brauchten dazu einen Chor, und den hatten wir lange nicht«, erklärt Inna Luchanskaja. Mit Taja Leinson sei eine künstlerisch engagierte Frau in die Gemeinde gekommen, die das Programm von Anfang an mit einstudiert habe. Darüber hinaus gestaltete der Künstler Boris Ostrowski mit seinem Kindermalzirkel eine kleine Ausstellung im Foyer des Gemeindezentrums. »Das ist unsere Zukunft«, freuen sich Röcher und Luchanskaja. Vielleicht wird der Jom Haschoa ja auch in Chemnitz zur Tradition.

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