Noach Klieger

Exodus

von Helmut Kuhn

Dieser Mann hat Geschichte geschrieben. Noach Klieger ist 81 Jahre alt, nicht groß, aber ziemlich breit. Er spricht acht Sprachen: Französisch, Deutsch, Englisch, Niederländisch, Spanisch, Hebräisch, Polnisch und Jiddisch. Wie schafft man das? »Ich höre eben zu und habe ein gutes Gedächtnis.« Jetzt steht Noach Klieger in der Lounge eines Berliner Hotels, möchte Kaffee trinken und Zigarren kaufen. Für einen Freund. »Ich habe Raucher nie verstanden. Ich musste mich als junger Mann nicht mit Zigaretten beweisen. Kam mir einer dumm, hab’ ich ihm eine gelangt.« Unter den Ärmeln seines schwarzen Hemdes zeichnen sich kräftige Oberarme ab. Der Mann hat einmal geboxt. In Auschwitz. In der berüchtigten Staffel des SS-Hauptsturmführers Heinrich Schwarz.
Ein Fanatiker sei dieser Lagerkommandant gewesen, der sich eine private Staffel hielt, die ihm jeden Sonntag Schaukämpfe zu liefern hatte. »Ich weiß nicht, was mich damals geritten hat, die Hand an der Rampe zu heben«, sagt Klieger und schüttelt den Kopf. »Ich war doch kein Boxer. Ich war vielleicht ‹n Schläger.« Aber es gab ein paar richtige Boxer. Und einer hatte ihm in belgischer Gefangenschaft einige Kniffe beigebracht. Woran man einen Boxer erkennt? Niemals die Fußsohle vom Boden heben. Die angewinkelten Ellbogen schützen den Magen, die Fäuste das Gesicht.
In der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wird Klieger heute aber nicht über das Boxen reden. Sein Thema ist das Schiff, die »Exodus«, an deren Bord er einer der Kommandanten war. Darüber will er berichten und darüber, wie es wirklich war. Denn weder der Roman Exodus von Leon Uris (1958) noch der gleichnamige Film von Otto Preminger (1960) haben nach Kliegers Überzeugung etwas mit der Realität zu tun: »Rein gar nichts, nur der Name des Schiffes stimmt noch. Dennoch war der Film mit Paul Newman in der Hauptrolle eines der größten Propagandawerkzeuge, die Israel je hatte.« Warum hat er die Geschichte der »Exodus« nicht selbst aufgeschrieben? »Journalisten sind schlechte Schriftsteller. Wir kommen vor lauter Schreiben nicht zum Schreiben«, lautet Kliegers Erklärung. »Ich bin seit 62 Jahren Journalist und hatte nie Zeit, ein Buch zu schreiben.«
Das stimmt nicht ganz. Inzwischen hat er sogar zwei Bücher geschrieben. Zwölf Brötchen zum Frühstück heißt eines und handelt von seinen Erlebnissen in Auschwitz. Das andere erzählt »kleine Geschichten« über Basketball. »Mein Hobby. Ich bin ein großes Tier im Internationalen Basketballverband.« Auschwitz und Basketball? Wie geht das zusammen?
Geboren ist Noach Klieger in Frankreich, im elsässischen Straßburg. 1934 sah sein Vater den Weltkrieg kommen und versuchte, die Familie zu retten. Noachs älteren Bruder schickte er 1935 nach England auf eine Toraschule. Dort sollte später auch Noach studieren. Doch 1938 machte England die Grenzen dicht. Die Familie zog nach Belgien, des Vaters Überzeugung folgend, die Deutschen würden Belgien verschonen. »Weil König Leopold III. ein begeisterter Anhänger des Führers war, heute würde man sagen: ein Groupie. Da hat er sich aber geirrt. Und wir saßen in Brüssel fest.«
Die Familie musste den »gelben Stern« tragen. Juden durften nach acht Uhr abends nicht mehr auf der Straße sein. »Ich war 15 und hatte eine Freundin in Anderlecht. Als ich abends mit dem Fahrrad zurückkam, war es schon sehr spät, und ich nahm den gelben Stern einfach ab. Auf der Avenue du Midi war eine Sperre der deutschen Feldgendarmen. Razzia. Ich begriff: Wenn die mich erwischen, geht’s dir schlecht.« Der einzige Ausweg: In den Gartenanlagen abseits der Straße stand eine große Menschenmenge. Unter die mischte er sich. »Plötzlich stand ich am Rand eines Basketballfeldes. Ich schielte immer nach hinten, ob sich da was tat. Derweil sah ich dieses Spiel, von dem ich keine Ahnung hatte. Komisch: Menschen, die einen Ball – anstatt zu schießen – mit den Händen in einen Korb werfen? Blödes Spiel.« Nach einer Zeit begann sich Klieger dafür zu interessieren. »Das waren die Les Semailles, der belgische Meister 1942. Das gefiel mir so gut, dass ich ihr Fan war, bis ich deportiert wurde.«
Am 29. April 1945 befreit ihn die Sowjetarmee in Ravensbrück. Hinter dem 19-Jährigen liegen zwei Jahre Auschwitz, Dora-Mittelbau und die Todesmärsche. Klieger kehrt nach Frankreich zurück und trifft seine Familie zufällig in der Straßenbahn wieder. Und er, der nie selbst Basketball gespielt hatte, wird einer der Gründer der neuen Makkabi-Klubs in Frank- reich und in Belgien. Als Klieger später nach Israel kam, waren »die Makkabis die einzigen Israelis, die ich kannte«. Drei Jahre später wurde er Präsident von Makkabi Tel Aviv. Seit er als erster israelischer Journalist zur Basketball-EM 1951 nach Paris reiste, ist er Chef der Medienkommission des Weltverbandes. »So habe ich der Schoa immerhin meine Liebe zum Basketball zu verdanken.«
Dann, auf dem Weg ins Berliner Gemeindezentrum, gerät der alte Mann richtig ins Schwärmen. Ja, das Boxen. Das Schwimmen. Der Fußball. Bis er 78 war, kickte er noch jedes Wochenende. Dann hatte er einen Herzinfarkt. Jetzt steht er jeden Morgen um 6.15 Uhr auf und läuft vier Kilometer, in 40 Minuten. In der Gemeinde wird er begrüßt wie ein alter Bekannter. Er besteigt das Podium. Jemand rückt ihm den Stuhl zurecht. Nein, er möchte nicht sitzen. Was jetzt folgt, muss man im Stehen sagen. Und dann erzählt er sie, die wahre Geschichte der »Exodus«.
»Wir schreiben das Jahr 1947. Frühling, zwei Jahre nach der Schoa.« Die Briten haben das Mandat über Palästina, das Land, das auch Eretz Israel heißt. Der Plan zur Teilung des Landes liegt bei den Vereinten Nationen. Um die arabische Bevölkerung Palästinas zu unterstützen, verhängt die britische Regierung eine Einreisesperre für Juden in Palästina. »Aus Dank dafür, dass einige Scheichs im Ersten Weltkrieg die Engländer im Kampf gegen die Türken unterstützt hatten – und weil die Araber Erdöl besaßen.«
Die Untergrundbewegung Hagana hat allerdings ein anderes Ziel. Je mehr Juden sich zum Zeitpunkt der Abstimmung der UNO bereits in Palästina befänden, legal oder illegal, desto größer würde der Anteil an Land für das jüdische Volk ausfallen. »Hier beginnt das Katz- und Mausspiel zwischen den Briten und der Hagana, hier beginnt die Geschichte des jüdischen Staates.« Die Hagana organisiert Flüchtlingstrecks aus den verstreuten DP-Camps Europas in den Süden Frankreichs. In den Häfen werden alte Schiffe gechartert, Seelenverkäufer, die einige Hundert Juden aufnehmen und nach Eretz Israel bringen, wo sie von der Hagana erwartet werden. Die französischen Behörden dulden diese Aktionen. Man nennt sie »Mapilim«, die Überlebenden der Schoa, die mit aller Kraft und Verzweiflung an ihren Staat glauben. Zwischen 1945 und 1947 verlassen 67 dieser Boote die französischen Häfen, mit über 70.000 Menschen an Bord.
Als die ersten Schiffe vor der Küste auftauchen, versucht die britische Marine, sie aufzubringen und die Mapilim in Lager auf Zypern zu stecken. Im Frühjahr 1947 stößt Noach Klieger zu diesen Mapilim und gibt sich als Josef Kaufmann aus. Er kommt in eines der Lager. Drei Tage später wird der junge Mann zum Kommandanten beordert. »Du heißt Noach Klieger. Du hast im Krieg Kinder und junge Juden über Belgien in die Schweiz geschleust«, sagt der ihm. »Wir bereiten ein sehr großes Schiff vor, wir brauchen dich.«
Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. 160 Lastwagen bringen 4.600 Flüchtlinge in den Hafen von Sète. Offiziell fährt das Schiff nach Kolumbien. Sämtliche Papiere und Visa sind gefälscht. »Da wir schnell arbeiten mussten, fanden sich alle möglichen Namen auf den Listen: 50-mal Albert Einstein, zwei Dutzend Napoleon Bonapartes. Als ein junges Mädchen die französische Grenze passieren wollte, fingen die Wachleute an, laut zu lachen. Auf ihrem Passfoto war ein bärtiger Jude zu sehen. Mit einem ›Ça va‹ winkten sie das Mädchen durch.«
Dann besteigen die Mapilim ein Schiff, »das hässlichste, das ich je gesehen hatte«, die »President Warfield«. Essensausgabe, Unterkunft und sanitäre Anlagen für 4.600 Menschen sind organisiert. Noach Klieger wird einer von sieben Offizieren an Bord. Am 11. Juli 1947, kurz nach Mitternacht, läuft das Schiff aus. Der Plan: Sobald die englischen Hoheitsgewässer erreicht sind, soll der Maschinist voll aufdrehen. Eine Hundertschaft junger Freiwilliger an Deck würde die sich nähernden Zerstörer mit langen Stangen abdrängen und der Kapitän das Schiff auf Sand setzen, wo die Mapilim von der Hagana erwartet würden. Aber es kommt anders.
Die Fahrt wird von Anfang an vom britischen Geheimdienst überwacht. Am 18. Juli wird das Schiff in internationalen Gewässern aufgebracht. Über vier Stunden wehren sich die Mapilim verzweifelt. Sie werfen mit Konserven und Kartoffeln. »Dann wurde es den Briten zu bunt. Sie rammten das Schiff und eröffneten das Feuer.« An Bord bricht Panik aus. Es gibt drei Tote und 160 Verletzte.
Der Widerstand ist gebrochen. Die Briten bringen das Schiff in den Hafen von Haifa. Was sie nicht wissen: Der Kampf wird seit Stunden über Radio Palästina live von Bord aus übertragen. An Land stehen Tausende hinter den Gittern. »Wir hissten die blauweiße Fahne und sangen die Hatikva, und alle sangen mit. Das war einer der ergreifendsten Momente meines Lebens.«
Die Hagana gibt dem Schiff jetzt den Namen »Exodus«. Die Mapilim werden auf drei britische Gefängnisschiffe verfrachtet und nach Frankreich zurückgebracht. Unterwegs hecken die Kommandeure einen neuen Plan aus: Noach Klieger, der beste Schwimmer, soll sich über Bord fallen und von einem der anderen Boote retten lassen und so die Botschaft überbringen: Bringt uns nach Eretz Israel oder bringt uns um!
»Ich falle, 13 Meter tief, falle wie ein Stein und gehe unter. Ich gerate in den Sog der Schraube und schwimme wie von Sinnen. Dann liege ich auf dem Rücken und warte, bis mich das zweite Schiff aufliest. Doch nichts passiert. Du Idiot, dachte ich, warum hast du dich gebrüstet vor den Mädels, du seist ein guter Schwimmer? Jetzt liegst du hier im Meer, bist noch keine 21 Jahre alt, hast nichts bewirkt und krepierst.«
Doch Klieger hat Glück. Nach einigen Stunden wird er von einem britschen Zerstörer nach Frankreich gebracht. Zum Abschied erhält er von der Besatzung, die nicht weiß, was er eigentlich vorhatte, aber seinen Mut bewundert, einen Ehrensalut. In Frankreich erfährt er: Auf allen drei Schiffen und unabhängig voneinander entschlossen sich die Mapilim, sich lieber das Leben zu nehmen als von Bord zu gehen. Drei Wochen liegen die Gefangenenschiffe im Hafen. Die erschöpften Juden weigern sich, von Bord zu gehen. Die Briten drohen damit, sie nach Deutschland zu bringen. Am 22. August legen die Schiffe ab, am 8. September erreichen sie den Hamburger Hafen. Dort werden die Mapilim einzeln von Bord getragen und in deutsche Internierungslager gebracht. »Überlebende der Schoa landen wieder in deutschen Lagern? Man stelle sich das vor! Das hat die Weltöffentlichkeit erschüttert. Die Odyssee der Exodus bedeutete einen Meilenstein bei der Abstimmung über den Teilungsplan.« Am 29. No- vember wurde der Plan mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen. Er bedeutete die Gründung des Staates Israel, an der Noach Klieger seinen Anteil hat.
Im Saal der Jüdischen Gemeinde zu Berlin erheben sich die Zuhörer. Ovationen, minutenlang. Manchmal schreibt das Leben auch gute Geschichten.

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