Platz im Leben

Erkenne dich selbst

von Rabbiner Baruch Rabinowitz

Mit dem Wochenabschnitt Wajechi endet das Erste Buch Moses. Die letzten Kapitel berichten über den Tod der Patriarchen Jakob und Josef. Jakob ist zusammen mit seiner Familie im Exil in Ägypten. Das Gelobte Land, in dem Abraham und Isaak gelebt haben, ist erst mal verloren. 400 Jahre trennen das 1. vom 2. Buch Moses, in dem wir über das weitere Schicksal der zwölf Stämme Israels, über Exodus und die Rückkehr nach Hause erfahren. Während dieser Zeit werden die Stämme sich entwickeln, so daß am Ende aus einer Familie ein Volk Gottes entstehen konnte. So wie jeder Sohn von Jakob, so wurde auch jeder Stamm für eine ganz besondere und einzigartige Aufgabe prädestiniert. Jeder einzelne mußte seine Eigenschaften entdecken und nutzen. Daß jeder seine Rolle spielt und seine Aufgabe erfüllt, sollte dafür sorgen, daß das Volk sich harmonisch entwickeln kann und daß statt Konkurrenz eine produktive Zusammenarbeit zum Wohl der ganzen Nation stattfinden kann.
Die Brüder haben schon etwas gelernt. Warum mußten sie alle unbedingt nach Ägypten? Wäre es nicht möglich gewesen, im Gelobten Land zu bleiben? Manche Rabbiner haben das Exil in Ägypten als Resultat des Neides von Josefs Brüdern angesehen. Josef wurde von Gott für die Königskrone erwählt. Sein Vater hat das gesehen und ihn besonders behandelt. Seine Brüder waren aber nur neidisch. Sie wollten ihn nicht als ihren König haben und verkauften ihn in die Sklaverei – dort ist er trotzdem zum König geworden. Seine ganze Familie mußte von ihm von Ägypten aus versorgt werden und dann selber als Sklaven 400 Jahre im fremden Land leben. Wäre das nicht geschehen, und hätten die Brüder Josef als ihren König akzeptiert, wäre vielleicht die Geschichte für das Volk Israel ganz anders verlaufen. Josef hätte in seinem Land regiert, nicht in einem fremden, seine Familie hätte nicht ins Exil gehen müssen, ihre Nachkommen wären freie Menschen gewesen und hätten nicht als Sklaven gelebt.
In Kapitel 49 liegt Jakob im Sterben und segnet seine Söhne. Seine Worte sind aber nicht einfach als Segen zu verstehen. Wie zum Beispiel an Ruben: »Ruben, mein Erster, du meine Stärke ... übermütig an Stolz, übermütig an Kraft, brodelnd wie Wasser. Der erste sollst du nicht bleiben. Du bestiegst ja das Bett deines Vaters, geschändet hast du damals mein Lager.« Seine Worte an Simon und Levi lauten auch nicht unbedingt wie ein Segen: »Simon und Levi, die Brüder, Werkzeuge der Gewalt sind ihre Messer. Zu ihrem Kreis mag ich nicht gehören, mit ihrer Rotte vereinige nicht mein Herz ...Verflucht ihr Zorn, da er so heftig, verflucht ihr Grimm, da er so roh. Ich teile sie unter Jakob auf, ich zerstreue sie unter Israel.« Diese Worte klingen für die meisten Ohren eher als Fluch denn wie ein Segen.
Unser Abschnitt erteilt eine sehr wichtige Lehre. Zu segnen heißt nicht immer, jemandem das zu wünschen, was er begehrt. Vielmehr bedeutet es, jemandem zu helfen seinen Platz in der Welt zu finden, an dem er sich am besten verwirklichen kann. Jemandem, der absolut keine Stimme hat, aber unbedingt Opernsänger werden will, zu sagen, daß er für sich eine andere Aufgabe finden sollte, ist ein Segen. Statt seine Zeit mit etwas zu verlieren, wozu er nicht fähig ist, sollte er das finden, womit er seiner Umwelt am besten dienen kann.
Einmal wurde Rabbiner Zusia gefragt: »Warum können so viele Menschen ihren Platz in der Welt nicht finden?« Der Rabbiner antwortete: »Weil viel zu viele Menschen auf für sie falschen Plätzen sitzen.«
Ruben zum Beispiel sollte nicht der Erstgeborene werden. Er hatte die Eigenschaften eines Erstgeborenen nicht. Josef und Jehuda haben sie gehabt. Er sollte einen anderen Weg finden, sich zu verwirklichen, genauso wichtig, aber eben anders. Levi sollte niemals mehr ein Schwert in seine Hand nehmen. Er hatte schon einmal bewiesen, daß er damit nicht richtig umgehen kann. Seinen Eifer sollte er deswegen als Priester und nicht als Krieger zum Ausdruck bringen. Ein nahes Verhältnis und Freundschaft zwischen Simon und Levi wurde von Jakob auch als destruktiv und gefährlich angesehen. Deswegen sollten die zwei Stämme auch in der Zukunft voneinander getrennt bleiben. Jemanden vor einer falschen oder destruktiven Beziehung zu warnen, ist viel mehr ein Segen, als ihr zuzustimmen oder sie zu befürworten. Die unendliche Weisheit der Tora lehrt uns, einander zu helfen, unsere Berufung, besondere Talente und Fähigkeiten in uns zu entdecken und so gut wie möglich zu entfalten. Uns gegenseitig vor dem falschen Weg zu warnen, ist genauso ein Segen wie gutes Bestreben zu unterstützen.
Über andere Menschen zu urteilen verlangt sehr große Weisheit und Selbstlosigkeit. Der sicherere Weg ist zu versuchen, sich selbst zu erkennen. Wenn wir uns von dem für uns falschen Platz fern halten, erlauben wir nicht nur anderen, ihren Platz zu finden. Wir erlauben vor allem uns selbst, den für uns allein bestimmten Weg und unsere Aufgabe zu finden.

Wajechi: 1. Buch Moses 47,28 - 50,26

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