Genuß

Ein Stück Ewigkeit

von Yaakov Asher Sinclair

Die meisten Menschen betrachten das Leben als eine Reise durch die Schatzkammer der Erfahrungen. »Etwas erleben« ist gleichbedeutend mit Leben an sich. Im Kanu wilde Flüsse zu durchqueren, am Fallschirm zu Boden schweben, am Swimmingpool Margaritas schlürfen, die Mona Lisa sehen oder auf den Mount Everest klettern – darum geht es im Leben.
Dieses Verständnis von Leben sieht das Sein als ein Handbuch der Möglichkeiten. Und derjenige, der die meisten Spielzeuge oder Trophäen hat, wenn er stirbt, hat gewonnen. Nach dieser Anschauung hat jemand, der sein Leben ohne diese unzähligen Erfahrungen lebt, nicht wirklich ge-
lebt. Die Aussage »Er hatte ein gutes Leben« bedeutet gewöhnlich, daß der Betreffende die Zeit genutzt hat, um auf dieser Welt so viele Erfahrungen wie möglich zu sammeln. Wer die tausendfachen Freuden des Lebens nicht kostete, wird als jemand betrachtet, der sein Leben vergeudet hat.
Das Judentum ist genau der gegenteiligen Anschauung. Lebenserfahrungen sind wie das Märchen vom Aschenputtel. Per Definition dauern sie so lange, wie man sie durchlebt. So süß und aufregend sie sind, kommt dennoch der Augenblick, in dem sich die vergoldete Kutsche in einen Kürbis zurückverwandelt. Ohne Unterlaß vergeht ein Augenblick des Lebens nach dem anderen und entschwindet für immer. Sobald der Geschmack eines Augenblicks endet, müssen wir einen neuen Geschmack, eine neue Erfahrung suchen. Wenn das Leben die Gesamtsumme unserer Erfahrungen ist, ist das Leben eigentlich eine Art anhaltender Tod. Es geht von Augenblick zu Augenblick und kann den Augenblick selbst nie besitzen.
Das Judentum setzt als gegeben voraus, daß alle Freuden, alle Erfahrungen dieser Welt uns nur aus einem einzigen Grund gegeben sind: Wir sollen den Geschmack des Lebens selbst bis ins Kleinste kennen- lernen. Woraus aber besteht dieser Geschmack des Lebens? Und was ist das Leben selbst, wenn es eben nicht die in ihm enthaltenen Erfahrungen sind?
Der Talmud lehrt uns, daß die Welt, wie wir sie kennen, sechstausend Jahre dauern wird. Im siebten Jahrtausend, von heute ab gerechnet in gut 233 Jahren, wird die Welt eine radikale Änderung durchmachen. In dieser Zeit wird jegliche Aktivität enden. Diese zukünftige Welt ist als Olam Haba, die kommende Welt, bekannt. Wollten wir versuchen, uns diese Welt vorzustellen, wäre sie wie ein andauernder Schabbat. Der Schabbat ist eigentlich eine Andeutung der künftigen Welt, ein leises Flüstern jener Wirklichkeit. Am Schabbat werden wir gebeten, genau definierte kreative Arbeit zu vermeiden. Indem wir dies tun, können wir in Verbindung treten mit etwas, das jenseits dieser Welt liegt.
Das Wesen der künftigen Welt ist ein Dasein ohne Aktivität. Wenn alle Aktivität endet, können wir das Dasein selbst wahrnehmen. In der Welt, in der wir jetzt leben, können wir zwischen den Erfahrungen des Lebens und dem Leben selbst nicht unterscheiden. Für uns ist die Wirklichkeit identisch mit unseren Erfahrungen. Doch das ist nicht wahr. Die Aktivität der Welt, in der wir jetzt leben, verdeckt die Wahrnehmung des Lebens selbst. Wenn alle Aktivität aufhört, werden wir den Geschmack des Lebens selbst erfahren. Und diese Erfahrung wird das Süßeste sein, was überhaupt möglich ist. Das ist das, was als kommende Welt bekannt ist – Sein ohne Aktivität. Neben dem Schabbat gibt es noch eine Möglichkeit, in der wir eine Vorahnung davon bekommen. Stellen Sie sich vor, Sie stünden vor einem Erschießungskommando. Sie starren in den langen schwarzen Tunnel eines Gewehrlaufs. »Achtung! Zielen! Und ...« Genau in dieser Sekunde kommt ein Bote auf den Platz gelaufen. »Stoppt die Hinrichtung! Der Gefangene wird freigelassen!« Stellen Sie sich vor, wie Sie sich in diesem Moment fühlen würden.
Wenn unser Leben auf der Kippe steht, wenn wir aus einer lebensbedrohlichen Situation gerettet werden, ist die Euphorie, die wir fühlen, die Wahrnehmung des Lebens, des Daseins selbst. Natürlich läßt dieses Gefühl nach. In dem einen Augenblick aber ist das Gefühl des Vom-Tod-Errettetseins die Wahrnehmung des Lebens selbst. Dieses Gefühl ist die bestän-
dige Freude, die ein Mensch in der kommenden Welt erfährt. Das Dasein selbst. Sein ohne Tun.
Rebbe Schimon bar Yochai war in talmudischen Zeiten ein unerbittlicher Kritiker der römischen Besetzung des Landes Israels. Er war gezwungen, sich zusammen mit seinem Sohn, dem Rebben Elazar, zu verstecken, wollten sie nicht hingerichtet werden. Sie flohen in eine Höhle in Galiläa. Dort lebten sie zwölf Jahre lang eine Art von jenseitiger Existenz. Als der Kaiser starb, wurde das Dekret gegen Rebbe Schimon aufgehoben, und die beiden kamen ans Tageslicht. Durch ihre erzwungene Isolation hatten sie eine einzigartige Sicht dieser Welt gewonnen. Sie sahen Menschen, die ihren Alltag lebten: säen, pflanzen, mähen und ernten, anscheinend von ihrem Alltagsleben völlig in Beschlag genommen, blind gegen alles andere. Sie waren empört, daß Menschen ganz in diesem begrenzten Leben aufgingen und das ewige Leben vernachlässigten. So intensiv war dieses Gefühl, daß alles, worauf ihr Blick fiel, sofort in Flammen aufging.
Welche Wahrnehmung verursachte ein so intensives Gefühl? Wir haben die Angewohnheit, uns diese und die nächste Welt wie zwei Kapitel eines Romans vorzustellen. Das eine endet, und das andere beginnt. Aber so ist es nicht. Es gibt in der nächsten Welt nichts, was es nicht bereits in dieser Welt gäbe. Einer der Segenssprüche, die wir über der Tora sprechen, lautet: » ... und Er hat in uns das ewige Leben eingepflanzt.« Eine Pflanze kommt nicht aus dem Nichts. Eine Pflanze wird nie mehr sein als das, was der Samen enthielt. Genauso ist unser ewiges Dasein nicht mehr als das, was Gott in uns eingepflanzt hat in dieser Welt.
Jeder Augenblick lebt und ist dann nicht mehr. Wenn wir für den Augenblick leben, indem wir das Leben als eine Reihe flüchtiger Erfahrungen wahrnehmen, dann wird der Geschmack des Augenblicks auf unseren Lippen eine Sekunde lang bleiben und dann für immer vergehen. Doch wenn wir all diese Augenblicke nehmen und sie mit der Quelle des Lebens selbst verknüpfen, wenn wir verstehen, daß unser ganzes Leben, unser ganzes Dasein, nur ein Aspekt dessen ist, was der Schöpfer ausdrücken und in seiner Schöpfung offenbaren möchte, dann werden in der nächsten Welt alle vergangenen Augenblicke wiederkehren und ewig leben. Wenn die Augenblicke genutzt werden, um etwas zu schaffen, was nie ausgelöscht werden oder verlorengehen kann, heißt das, in dieser Welt ein ewiges Leben zu leben. Dies ist der Geschmack des Lebens selbst, und nichts kann süßer sein.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Ohr Somayach Institutions, Jerusalem/Israel. www.ohr.edu

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