Wohnprojekt

Ein Hochhaus Heimat

von Lennart Laberenz

Auf der Avenida Cabildo merkt man, daß Buenos Aires eine große Stadt ist. Drei Fahrbahnen stadtein-, drei stadtauswärts. Tagsüber schieben sich Fußgänger vor den Geschäften entlang, nachts brüllen die Busse unter Vollgas wie angeschossene Tiere. In den Seitenstraßen nach Süden ragen Hochhäuser aus den 60er und 70er Jahren in den Himmel, zwanzigstöckige Zweckbauten mit verschlossenen Fronten und Concierges neben geduckter Kolonialstilarchitektur.
Der Eingang zu Vidalinda ist verspiegelt, Fremde kommen nur mit Anmeldung hinein. An der Seitenwand der Eingangshalle erstreckt sich ein Holzfresko. »Ich glaube, es ist Jerusalem«, sagt Edith Silber, bevor wir in den Aufzug steigen. Edith Silber wurde vor 92 Jahren in Lobberich bei Krefeld geboren. Von dort floh sie 1938 als Betreuerin einer jüdischen Jugendgruppe über Berlin nach Triest. In Rio de Janeiro machte der Dampfer einen Zwischenstop. Edith und eine Freundin fuhren auf Einladung eines Mitreisenden durch die Stadt. Als dieser die Zeitung las, bat er mit besorgter Miene um ein Treffen der ganzen Gruppe noch am gleichen Abend. »Das war der Abend, an dem uns klar wurde, daß wir unsere Familien wohl nicht mehr wiedersehen würden«, sagt Edith, während sie sich in ihren roten Ohrensessel setzt. Der Abend vor fast 70 Jahren, das war der 10. November 1938.
Viele Jahre später steht Juan C. Caro im Erdgeschoß der Asociación Mutual Israelita Vidalinda. Die jüdische Genossenschaft hatte kurz zuvor ihren rechtlichen Status erlangt. Juan C. Caro eröffnet an diesem 20. Dezember 1970 das Hochhaus, in dem fortan ältere deutschstämmige Juden ihren Lebensabend verbringen sollen. »Ein Gebäude für Menschen, die nach Vertreibung und Flucht als Überlebende der Schoa Geborgenheit und Sicherheit brauchen und sich gegenseitig helfen können« – so beschreibt Caro die Idee hinter dem Gemeinschaftsprojekt. Vida linda, »schönes Leben«.
Für viele Juden aus Europa war zu diesem Zeitpunkt aus dem Exil längst die Emigration geworden. Argentinien hat eine lange Geschichte als Einwandererland, schon hinter der Verfassung von 1852 stand eine Mischung aus Liberalismus und wirtschaftlichen Überlegungen: Regieren heißt bevölkern. Zwischen 1870 und 1960 verzehnfachte sich die Bevölkerung, vorwiegend durch europäische Einwanderung. Anfang der dreißiger Jahre lebten rund 300.000 Juden aus aller Welt in Argentinien.
Der Stadtteil Belgrano war ein Anlaufzentrum für jüdisches Leben. Hier steht auch der Doppelturm von Vidalinda, eine verschlossene Fassade mit Balkonen aus grauen Betonplatten, dazwischen roter Backstein. Eingangshalle, Sitzecke, Pförtnerloge, alles im Stil der sechziger Jahre. Die 105 Wohnungen haben Küche, Schlaf- und Wohnzimmer, es gibt Gemeinschaftsräume für Spielnachmittage und Vorträge. Wer will, kann im Speisesaal essen, oder sich das Essen in die Wohnung bestellen.
»Das mache ich, wenn ich alt bin«, sagt Edith Silber und lacht. An sonnigen Tagen sitzt sie lieber im ruhigen Garten hinter dem Haus und ißt Pflaumenkuchen mit Schlagsahne. Und erzählt von ihrer idyllischen Jugend am Niederrhein, ihrem Rabbiner Arthur Bluhm, der ein Lieblingsschüler von Leo Baeck und Martin Buber war. Nach ihrem Abitur 1933 legt Buber den Arm um ihre Schultern und sagt: »Warte noch ein Jahr, bis der Spuk vorbei ist, dann kommst du nach Berlin zum Studium.« Edith wollte an die Berliner Hochschule für jüdische Wissenschaften. Doch der Spuk ging nicht vorbei. »Das einzige Stückchen Erde, das Heimat ist, sind die Gräber meiner Familie.« Auf den Friedhöfen in der Gegend um Nettetal sind ihre Vorfahren seit 1795 begraben. Seit ihrer Flucht ist Deutschland für sie ein leerer Begriff geworden. »Ich habe kein Gefühl mehr dafür.«
Edith Silber erzählt von ihrem Mann, der schon in den zwanziger Jahren nach Argentinien kam und kurz nach dem 30. Januar 1933 aus dem elitären Deutschen Klub geworfen wurde. Auch sein Konto bei einer deutschen Bank verlor er. Edith ist eine begnadete Erzählerin, wiederholt nicht ihre eigenen Pointen, kramt und arbeitet stattdessen an leeren Stellen, versucht, Lücken zu schließen. Dabei helfen ihr die Kopien ihrer Korrespondenz, die sie unter Aktendeckeln und in Mappen stapelt. »Die ersten Jahre hier waren vollständig mit Arbeit und der Hoffnung ausgefüllt, die Familie nachholen zu können. Ich habe sonst einfach nicht viel wahrgenommen.« Zum Jahresende 1938 schickt sie ein Foto an die Eltern. Fremdheit und Exotik: Auf dem Bild steht Edith Silber unter einer Palme.
Nach ihrer Ankunft in Buenos Aires hat sie kaum Zeit, sich einen Begriff von der Stadt zu machen. In Deutschland spitzte sich das Leben für Juden zu, die »Endlösung« hatte begonnen. Einem jüngeren Bruder gelang die Flucht nach England. Der andere schrieb kurz vor seiner Deportation 1941, daß sie sich um ihn keine Sorgen machen solle. »Ich bin jung und kräftig, mir wird nicht viel geschehen, sieh du nur zu, daß du die Eltern hier herausholst.« Allein, alle Mühen waren vergeblich, die Papiere vergebens besorgt und alle schikanierenden Ämtergänge wirkungslos. »Wir haben hier schon genug Juden«, beschied ein Beamter der Einwanderungsbehörde. Ihren letzten Brief an die Familie erhielt Edith wenige Monate später aus dem Außenlager von Auschwitz zurück. Nicht mehr zustellbar, verkündete der Stempel.
Schon genug Juden. Auch Lena Faigenblat hat diese Erfahrung gemacht. »Zuerst wollten sie mich in Vidalinda gar nicht«, sagt Ediths zwei Jahre ältere Freundin. Auch in Argentinien wirkten Kulturgrenzen aus Europa lange nach. Polnische und deutsche Juden näherten sich zögerlich an. Auch Vidalinda öffnete nur langsam die Pforten für Juden aus anderen Ländern. Nachdem Lena sich den Fuß gebrochen hatte, half ein Freund der Witwe beim Auszug aus ihrer Wohnung, die nicht altengerecht war. »Jetzt bin ich schon 21 Jahre hier.«
Lena Faigenblat macht eine einladende Geste mit der Hand. Hinter ihr stehen ein Schrank aus den fünfziger Jahren, ein Sessel und ein Fernseher. Der kleine Raum wird dominiert von ihrem Schreibtisch an dem sie Platz nimmt. Links von ihr sitzt Edith Silber im blauweißkarierten Sommerkleid, immer bereit, noch einen Ordner mit Zeitungsausschnitten, ein selbstgeschriebenes Büchlein oder ein Bild aus dem Regal zu holen, Lena Faigenblat trägt eine weiße Bluse mit braunen Punkten. Die Haare hat sie ordentlich hochgesteckt, um den Hals trägt sie eine Kette mit Davidstern und neunarmigem Leuchter. Beide begreifen ihr Judentum als Identität. Auch die Mesusa an jeder Wohnungstür verkündet: »Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie Du!«
Lena überlebte das Warschauer Ghetto. Nach dem Pogrom von Kielce 1946 verließ sie Polen. »Damals war klar, daß es dort kein Leben mehr für uns gab«, sagt sie. Mit »uns« meint sie ihren Mann, der den Aufstand im Ghetto mitorganisierte und überlebte. Sie selbst überbrachte verschlüsselte Nachrichten durch Tunnelgänge zwischen Verbindungsposten. »Ich war zierlich und schmal«, erzählt sie und fixiert etwas versonnen das gerahmte Bild einer elegant gekleideten Dame, die 1934 einen Warschauer Boulevard hinabschlendert. Dann berich- tet sie, wie ihr Mann sie an einem Abend im Frühling beiseite nahm: »Lena, ich habe nie Gehorsam von dir verlangt, aber morgen mußt du ohne weitere Fragen machen, was ich dir jetzt sage.« Er instruierte sie, das Ghetto wie jeden Tag zur Arbeit zu verlassen und ein geblümtes Kleid zu tragen. Sie würde an diesem Tag von einem fremden Mann angesprochen, dem sie einfach zu folgen habe. So begann die Flucht aus dem Ghetto. Nach einem Irrlauf durch Warschau, mit wechselnden Begleitern, gelangte sie abends in eine Wohnung, in der zwei Polinnen lebten. Am Abend des 13. April 1943 erreichte sie den Ort, der ihr die nächsten 17 Monate als Versteck diente. Vier Tage später begann der Aufstand der Ghettobewohner gegen die Nazis.
Lena Faigenblats Erzählungen handeln von Barmherzigkeit, von Terror und von Angst. Sie handeln vom Aufwachsen in der gehobenen Gesellschaft Warschaus, von der Schulbildung, den weiten Familienkreisen, von Hobbys wie Briefmarkensammeln. Bei manchen Nachfragen verweist sie streng auf eines ihrer schmalen Bücher, die kleine biographische Eckpunkte und Anekdoten zusammengetragen haben. Ihre Erzählungen haben nichts an Wut verloren. Abscheu vor dem polnischen Antisemitismus, Unverständnis und Ohnmacht scheinen manchmal dicht unter der Oberfläche ihres Gesichtsausdrucks entlangzuziehen, oft schüttelt sich ihr Körper darunter. »Wir waren doch kultiviert«, sagt sie mit Nachdruck, ganz so, als wolle sie noch heute die Parolen des Antisemitismus widerlegen. Denn auch im Bildungsbürgertum war der Judenhaß greifbar. »Wir dachten, das geht vorüber.«
Lena versucht, ihrem Zuhörer noch mit 94 Jahren die greifbare Gestalt der Angst zu vermitteln, mit der sie 17 Monate lang versteckt lebte. Jede Sekunde wurde sie von dieser Angst bedrängt. 17 Monate lang muß sie jedes Geräusch vermeiden, darf tagsüber, wenn die beiden Polinnen bei der Arbeit sind, die Klospülung nicht betätigen, nichts herunterfallen lassen. Kein Geräusch darf nach draußen dringen. Noch in Vidalinda schläft sie sehr leicht, »mit der Brille auf und mit einem Ohr auf der Straße«.
Am Rand der Seite 176 von Ruben Naranjos Biographie über den polnischen Mediziner, Schriftsteller und Erzieher Janusz Korczak hat Lena Faigenblat mit einem Bleistift zwei saubere Haken gemacht. Auch bei den bibliographischen Angaben findet sich ein Haken links neben dem Eintrag »Gartenstein-Faigenblat«. Janusz Korczak, der in Warschau ein Waisenhaus einrichtete, mit seinen Zöglingen ins Ghetto und dann freiwillig nach Auschwitz in den Tod ging, ist einer der großen Helden im Leben von Lena Faigenblat. »Korczak war wunderbar. Ein getaufter Jude, der über sein Judentum nichts wußte, ein barmherziger Mensch.« Eine Weile holte sie jeden Samstag ein Kind aus dem Waisenhaus, »um ihm am Wochenende ein Familienleben zu geben«. Die drei Haken bestätigen ein kleines Ziel, daß sie auch in Buenos Aires mit aller Energie verfolgte: »Wir alle leben mit der Frage, warum wir überlebt haben. Wir haben keine andere Antwort als die von Primo Levi: Wir müssen davon erzählen.«
Lena Faigenblat zeigt immer neue Zeitungsartikel, erzählt immer neue Geschichten. Wir stehen schon zum Abschied, sie verschmäht ihre Gehhilfe und hakt sich unter, als sie auf das Alter zu sprechen kommt. Die Hüften und das Knie. Aber schlimmer als die Schmerzen sei die bittere Erkenntnis, »daß ich nicht mehr aktiv am Kulturleben teilhaben kann. Ich kann nur noch entgegennehmen«. An der Tür beugt sie sich vor und greift beide Arme des Reporters. »Sie wissen ja nicht, was das heißt. Man hat mir die besten Jahre gestohlen.« Sie hält inne, als sei sie mit ihren Gedanken zurück nach Warschau geeilt: an die Universität, in der sie schon vor 1933 auf getrennten Judenbänken hätte Platz nehmen sollen, an die Plätze und Boulevards, auf denen sie im vertrauten Gespräch mit den »Oberen der Gesellschaft« flanierte, an das Ghetto. Dann ist sie wieder in Buenos Aires, im Hausflur von Vidalinda. Auf bald, sagt sie mit einem
dünnen Lächeln.

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