Janowitz

Die Schatzkammer

von Kilian Kirchgessner

Es ist, als müsse er ein Heiligtum bewachen: Prometheus selbst mustert mit entschlossenem Blick jeden, der das Treppenhaus betritt, eine mannsgroße Statue aus Lindenholz, überwölbt von einer Decke, die sich unter der Pracht ihrer barocken Malereien biegt. Putten tragen schmiedeeiserne Leuchter. Und bei jedem Schritt knarzt die Treppe, die hinaufführt zum Ziel. Die Türe schwingt auf und plötzlich herrscht Ruhe. Es öffnet sich ein Saal mit klaren Linien, an der Wand stehen Bücherregale. In ihnen reihen sich zu Hunderten die Bände, die Zeugnis geben von der kulturellen Blüte Prags zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Hier stehen die ledergebundenen Ausgaben von Karel Capek, von Rainer Maria Rilke und Karl Kraus; gleich neben dem Schreibtisch, an dem sie viele ihrer Werke geschrieben haben.
Es ist ein weiter Weg zu dieser Schatzkammer der tschechisch-deutsch-jüdischen Literatur. Er führt weg von der Hauptstraße, die Prag mit Passau verbindet, immer weiter hinein in die Hügel der südböhmischen Landschaft und durch Dörfer hindurch, in denen sich die Häuser noch heute um die örtliche Schänke herum gruppie- ren. Hier, versteckt zwischen ausgedehnten Wäldern, steht Schloss Janowitz. »Als ich zum ersten Mal hierhergekommen bin, da hatte ich den Eindruck, das Schloss liege im Dornröschenschlaf«, sagt Ludmila Fiedlerova. Sie ist seit einem Vierteljahrhundert die Herrin über Schloss Janowitz; als Kastellanin ist sie angestellt. »Es war damals zwar nicht zugewachsen, aber in allen freien Winkeln häuften sich Abfall und Bauschutt, überall liefen Arbeiter herum«, erzählt sie. Wie eine Schlossherrin wirkt sie nicht in ihrem ausgeblichenen T-Shirt und der blauen Jeans. Fiedlerova ist eine zupackende Frau. Und genügend zu tun gab es allemal in den Jahren, die sie auf Schloss Janowitz lebt: Die ganze Fassade leuchtete nach einer früheren Reparatur in knalligem Rosarot, die Fensterrahmen in kaltem Weiß. Alles war wie in einem sozialistischen Disneyland. Und erst im Innern: Irgendjemand hatte die wertvollen Wandgemälde übertüncht. »Ich wusste gar nicht, womit ich anfangen sollte bei der Restaurierung«, sagt Ludmila Fiedlerova.
Erst jetzt, einige Jahrzehnte später, sind die letzten Handwerker verschwunden. Sie haben das Schloss zu einem Museum umgebaut, das ganz den großen Literaten gewidmet ist, die einst hier zu Gast waren. Für sie war Janowitz nicht nur ein Rückzugsort, es wurde zugleich zum Mittelpunkt ihrer Werke, zur Inspiration. »Das war Böhmen, das ich kannte«, schrieb Rainer Maria Rilke über den Weg zum Schloss, als er zum ersten Mal in Janowitz weilte: »Hügelig wie leichte Musik und auf einmal wieder eben hinter seinen Apfelbäumen, flach ohne viel Horizont und eingeteilt durch die Äcker und Baumreihen wie ein Volkslied von Refrain zu Refrain. (...) Bis nach mehreren Wendungen, Brücken, Durchblicken, durch einen alten Wassergraben abgetrennt, das Schloss aufstieg, alt, oben zurückgebogen wie aus Hochmut, mit Fenstern und Wappenschildern ungleichmäßig bedeckt, mit Altanen, Erkern und um Höfe herumgestellt, als sollte sie nie jemand zu sehen bekommen.«
In der Bibliothek nehmen die Werke von Rilke eine ganze Reihe ein. Es ist die Reihe, neben der die Büste aus weißem Marmor steht. Ein Frauengesicht zeigt sie, die lockigen Haare aufgesteckt, den Blick nach unten gerichtet. Es ist die Büste der Dame, die Schloss Janowitz als Treffpunkt der Künstler und Intellektuellen etablierte: Baronin Sidonie Nadherny von Borutin.
Von ihr hat außerhalb eingefleischter Germanisten-Kreise kaum jemand etwas gehört, dennoch zählt sie zu den Schlüsselfiguren der deutsch-tschechisch-jüdischen Kulturszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf Schloss Janowitz wurde sie 1885 geboren, ihre Familie war eine der wohlhabendsten in der Umgebung. Schon früh erbte die Baronin den Stammsitz derer von Borutin. Zu Hause fühlt sie sich aber nicht in den Traditionen des Adels, in Landwirtschaft und Jägerei. Stattdessen verbringt sie ganze Tage in der Bibliothek, begeistert sich für bildende Kunst und Musik, reist zu Museen in ganz Europa. »Sie war eine offene Frau mit vielseitigsten Interessen«, sagt Kastellanin Fiedlerova: »Sie hatte die Gabe, spannende Menschen zu treffen.« Im Atelier von Auguste Rodin lernte sie zum Beispiel Rainer Maria Rilke kennen. Er arbeitete damals beim großen Bildhauer, musste die Gäste und Besucher herumführen. Bald darauf kam er nach Janowitz, die Einladung der Baronin hatte ihm geschmeichelt.
Sidonie Nadherny von Borutin rückte ihr abgelegenes Schloss in die Welt hinein. Sie gab künstlerische Salons, veranstaltete Literaturabende – hier an dem abgelegenen Ort, von dem es selbst bis nach Prag eine halbe Weltreise ist und erst recht nach Wien. Trotzdem kam nicht nur Rilke; auch Kraus und Capek zählten zu den regelmäßigen Gästen, der Maler Max Svabinsky, die Komponistin Dora Pejascevich, der Architekt Adolf Loos und viele andere, die in der späten Zeit der Habsburger und dann in der ersten Tschechoslowakischen Republik zur künstlerischen Avantgarde zählten. Alle waren begeistert – einige vom Schloss, die meisten von der Schlossherrin.
Schicksalhaft war Sidonie Nadhernys Treffen mit Karl Kraus, dem Herausgeber der »Fackel«, einer der schärfsten politisch-intellektuellen Zeitschriften dieser Epoche. Zum ersten Mal begegneten sie sich im September 1913, sie war gerade einmal 27 Jahre alt, er 39. »K.K. steckt in meinem Blut; er macht mich leiden«, notiert sie in ihrem Tagebuch. »Er ging meinem Wesen nach, wie keiner noch, er begriff, wie keiner noch. Ich kann nichts tun, wenn ich ihn nicht vergesse.« Karl Kraus macht weniger Worte: Er spricht von ihrem ersten Treffen als seinem »Wiedergeburtstag«.
»Schauen Sie hier«, sagt die Kastellanin, »diese beiden Bände enthalten die Briefe, die er ihr geschickt hat.« Fiedlerova hat sie alle gelesen, über Hunderte und Aberhunderte Seiten hinweg. Jeden Tag, so haben es Kraus und Sidonie Nadherny abgemacht, würden sie sich schreiben. Und Karl Kraus reiste nach Böhmen, so oft er konnte. Die Spuren, die dort von ihm geblieben sind, hat Ludmila Fiedlerova sorgfältig rekonstruiert. In der Bibliothek von Janowitz ist Karl Kraus allgegenwärtig, die Gesamtausgabe seiner »Fackel« füllt in ihrem roten Leineneinband einige Regalmeter, genauso wie Kraus’ Auseinanderset- zung mit dem Judentum. Er, als Sohn einer jüdischen Familie geboren, zählte zu den scharfen Kritikern seiner eigenen Religion und war gezeichnet von seiner Suche nach Identität. In Janowitz fand er Ruhe und Zuflucht. Seinen Lieblingsplatz hatte er draußen im Garten. »Es ist eine herrliche Bank und immer noch genau dieselbe, auf der Karl Kraus immer gesessen hat«, sagt Fiedlerova. Die steinerne Kraus-Bank steht im majestätischen Schatten einer Pappel. Hier hat sich Kraus mit seinen Manuskripten niedergelassen. Die letzten Tage der Menschheit, seine verbitterte Bilanz von Gewalt und Vernichtungskraft des Ersten Weltkriegs, entstanden teilweise in Janowitz. Und hier auf seiner Bank schrieb Karl Kraus zum ersten Mal Gedichte.
Geheiratet haben Karl Kraus und Sidonie Nadherny nicht, obwohl sie schon kurz nach ihrer ersten Begegnung intensiv darüber nachgedacht haben. Wahrscheinlich, so sagen heute Literaturwissenschaftler, hat ausgerechnet Rainer Maria Rilke der jungen Baronin die Hochzeit ausgeredet. Vermutlich war es Karl Kraus’ jüdische Herkunft, die Rilke als Argument anführte. »Er kann Ihnen nicht anders als fremd sein, ein fremder Mensch«, schreibt er im Februar 1914 an die »liebe Sidie«. »Sie stehen einer Waffe, einem Bewaffneten, einem geistigen Angreifer gegenüber.« Es sind solche Konflikte, solche persönlichen Dramen, die heute, knapp 100 Jahre später, in der Ausstellung auf Schloss Janowitz nachgezeichnet sind. »Wir wollen die menschliche Seite der großen Autoren zeigen«, sagt Ludmila Fiedlerova. Das Schloss selbst wirkt dabei wie ein Exponat zur Zeitgeschichte: Im Park liegt das Familiengrab derer zu Borutin, versteckt abseits der gangbaren Wege, bestanden mit alten Bäumen. Erst vor einigen Jahren ist hier Sidonie Nadherny beigesetzt worden, hier an ihrem Sehnsuchtsort. Gestorben ist sie allerdings in England, es war ein später Septembertag 1950, sie war auf der Flucht vor den Kommunisten. Die hatten aus ihrem Schloss ein Auslieferungslager für die tschechoslowakische Textilindustrie gemacht.
Aber viel zerstören konnten sie ohnehin nicht mehr. Im Zweiten Weltkrieg hatte die deutsche Wehrmacht hier eine Kaserne eingerichtet, zwischen Tapetensaal, Bibliothek und der Prometheus-Statue im barocken Treppenhaus donnerten Soldatenstiefel. Und dann die Rote Armee. Sie reparierte auf dem geschliffenen Parkett ihre Panzer. Als das tschechische Nationalmuseum schließlich irgendwann in den 60er-Jahren einschritt, war es allerhöchste Zeit: »Der Park war hoffnungslos zugewuchert, das Schloss selbst in grauenhaftem Zustand. Alles stand kurz davor, komplett einzustürzen.«
Heute strahlt die Fassade zart rosafarben, die Brücke über den Schlossgraben hinweg zum Innenhof ist ausgebessert und wieder so mit Efeu zugerankt wie auf den alten Fotos. Trotzdem: »Fertig sind wir noch lange nicht«, sagt Fiedlerova. Ein paar Jahre, schätzt die Kastellanin, wird sie noch brauchen, bis Park und Schloss wieder so aussehen wie zu Zeiten der Baronin. Und das ist für sie der einzige Maßstab.

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