Libanonkrieg

»Die Leute haben so viel verloren«

von Sabine Brandes

Am Steg stehen die Besucher Schlange, im Wasser reiht sich ein Schlauchboot fast ans nächste, Kinder jauchzen, Teenager johlen und spritzen sich gegenseitig nass, und auch die Großen kommen auf ihre Kosten bei dem feuchten Spaß fluss-
abwärts. Familienidyll auf dem Hatzbani nur wenige Kilometer südlich von Kiriat Schmona.
Die großen Ferien haben begonnen, die Touristen sind da. Genauer gesagt sind sie zurück. Denn vor einem Jahr sah es hier anders aus: Nicht ein Mensch mietete ein Boot, kein Zelt stand auf dem Campingplatz im Kibbuz Kfar Blum. Es herrschte bedrückende Leere. Darüber donnerten tagein, tagaus die Kampfjets der heimischen Truppen, während aus dem Libanon die Katjuschas mit ungeahnter Heftigkeit ins israelische Kernland einschlugen und den Norden einen ganzen Sommer lang paralysierten.
»Wir hoffen so sehr, dass der Besucherstrom anhält.« Die Worte von Jossi am Bootsverleih klingen fast wie ein Stoßgebet, während er die Gummiboote ins kühle Nass schubst. »Wir brauchen jeden Gast. Schließlich sind im Sommer nicht nur sämtliche Touristen ausgeblieben, es sind auch Anlagen, Gebäude und Maschinen zerstört worden. Ohne die Hilfe unserer Landsleute würde es für viele von uns nicht weitergehen.«
Viele zeigen sich in diesen Tagen solidarisch mit den kriegsgeschundenen Bewohnern. Wie Gil Daniel. Mit seinem Sohn verbringt er eine »Männerwoche« mit Zelten, Angeln und Kajakfahren. »Wir kommen aus Aschkelon und sind glücklicherweise verschont geblieben«, sagt er fast entschuldigend. »Aber wir fühlen mit den Menschen hier und wollen das durch unseren Besuch zeigen.«
Zehn Minuten mit dem Auto in Richtung Norden trifft man auf die beiden Attraktionen der Stadt Kiriat Schmona: Seilbahn und Bobstrecke auf Rollen. Letztere ist geschlossen. Ein Schild am Eingang klärt auf: »Die Strecke ist durch Bombeneinschläge im Zweiten Libanonkrieg stark beschädigt worden ... wir arbeiten daran.« Die Seilbahn nebenan fährt. Pro Person muss man 59 Schekel berappen, mehr als zehn Euro. Ein teurer Spaß für zehn Minuten Fahrt und einen Blick auf die verbrannten Bäume an den Hängen. »Katjuschas«, bemerkt der junge Sicherheitsbeamte am Eingang knapp. Die Menschen bezahlen ohne Brummen, für Israelis nicht gerade gewöhnlich. Der Vater einer vierköpfigen Familie aus Tel Aviv legt seine goldene Visakarte auf den Tresen. Es sei in Ordnung, dass hier alles jetzt ein bisschen mehr koste, findet er. »Schließlich haben die Leute so viel verloren. Deshalb verbringen wir unsere Ferien diesen Sommer nicht im Ausland, sondern im Norden. Soviel Solidarität muss sein.«
Die Menschen wollen nach vorn schauen, auch wenn die Angst vor dem, was sich am politischen Himmel zusammenbrauen könnte, im Nacken sitzt. Der Sicherheitsmann findet es nicht leicht. »Aber es muss vorangehen, wir wollen nie wieder Kiriat Katjuscha sein.«
Schon das Wort allein löst bei ihr eine Gänsehaut aus. Ronit Maimon aus einem Moschaw bei Haifa hastete fast täglich in den Schutzbunker, an manchen Tagen bis zu sieben Mal. Ganze Nächte verbrachte sie unter der Erde, zusammengepfercht mit zig anderen. Zwar schlugen die Raketen nicht direkt im Dorf ein, »doch es war, als ob sie jedes Mal etwas näher kamen«. Meist fielen sie auf die Felder rundherum. Die Löcher sind längst zugeschüttet, die Wunden auf Maimons Seele sind nicht verheilt. Acht Kilo hat die 40-Jährige abgenommen, sie schläft schlecht und hat Panikattacken. Ärzte haben ihr ein posttraumatisches Stresssyndrom attestiert. »Das hilft mir nicht«, meint sie bitter und zieht an ihrer Zigarette, es kümmere sich niemand darum, sie müsse funktionieren. Die Sekretärin ist alleinerziehende Mutter eines 10-jährigen Sohnes. Auch ihm sind die Erinnerungen an die Sirenen noch allgegenwärtig. Wie die angsterfüllten nächtlichen Anrufe der Mutter bei den Großeltern in Netanja: »Bitte holt sofort das Kind ab!«
Auch an die Trauerfeiern entsinnen sich beide. Es waren die Nachbarn, die ihren 20-jährigen Sohn verloren. An dem Tag, an dem auch der Sohn des Schriftstellers David Grossman starb und schon alles fast vorbei war. Aber eben nur fast.
»Ledaber im Suria – mit Syrien reden«: Das weiße Banner mit den roten Buchstaben einer Friedensinitiative flattert an Zäunen und Balustraden im ganzen Land. Seit Monaten bringen die Zeitungen immer wieder Schlagzeilen über Geheimverhandlungen mit dem Nachbarn im Nordosten, doch die Wenigsten sind ausnahmslos optimistisch. Viele wissen nicht, wie sie die Gesprächsabsichten des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad einordnen sollen. »Will er Frieden? Oder ist alles nur Ablenkungsmanöver für einen Spontanangriff?«
Auch Maimon sorgt sich, wenn sie an den Sommer denkt. Zwar glaubt sie nicht
an eine Überraschungsattacke, doch sie be-
trachtet die Absichten der Syrer mit Skepsis. Sie runzelt die Stirn, steckt sich noch eine Zigarette an und schaut ins Weite: »Wenn es wieder Krieg gibt, bin ich hier weg, nochmal halte ich das nicht aus.«
Ganz abwegig ist ein Überraschungsangriff nicht. Am 17. Juni landeten drei Ra-
keten im Industriegebiet Kiriat Schmonas. Einfach so. Sie zerstörten ein Auto, richteten jedoch keinen weiteren Schaden an. Die Hisbollah lehnte die Verantwortung ab, es wird davon ausgegangen, dass radikale Palästinensergruppen sie abfeuerten, als sie sich Gefechte mit der libanesischen Armee lieferten.
Leah Schelis größte Angst ist die Unberechenbarkeit. »Wir können doch nicht wissen, ob sie wieder angreifen.« Den ganzen Krieg hat sie in ihrem Haus in der Altstadt von Safed verbracht, wo die Bomben schier endlos fielen. Aus Angst vor Plünderungen und weil sie nicht wusste, wohin. Bunker kamen nicht infrage, »teils waren sie überfüllt, teils verdreckt«, klagt sie. Erst vor Kurzem wurde bekannt, dass sich noch viele der Sicherheitsräume in einem katastrophalen Zustand befinden, auch in Safed. Schon damals erhob Scheli Vorwürfe gegen Stadtverwaltung und Regierung. Niemand sei gekommen, um zu helfen. In der ersten Woche war ihre Tochter Bar noch bei ihr, dann wurde sie in ein Ferienlager für Kriegskinder geschickt. Beide leiden unter Schlafstörungen und wiederkehrenden Albträumen. So sieht es im Innern vieler Menschen aus.
In Sachen Äußerlichkeiten hat Safed aufgeräumt. Schon lange sind die zerborstenen Scheiben erneuert, die Einschlaglöcher im Mauerwerk verputzt, die stark beschädigte Wisnitz-Tunis-Synagoge im historischen Teil der berühmten Stadt der Mystiker ist wieder aufgebaut. Geschäftig huschen Männer in wallenden Kaftanen durch die pittoresken Gassen, um dann blitzschnell in versteckten Hauseingängen zu verschwinden. Zeitverschwendung ist eine Sünde. Die berühmte HaAri-Synagoge blieb im Krieg verschont, obwohl rundherum die Katjuschas krachten. »Ein Wunder«, riefen damals viele. Auch Leah Scheli ist gläubig. Sie hofft, dass ihre Gebete - nie wieder Krieg für sie, ihre Tochter und ganz Israel – dieses Mal erhört werden.

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