Voreingenommenheit

Des Kaisers neue Kleider

von Jonathan Rosenblum

Forscher an der Emory-Universität in Atlanta/USA haben vor einiger Zeit ein interessantes Experiment durchgeführt, um das Denken – beziehungsweise das Fehlen desselben – bei parteipolitischen Gefolgsleuten zu testen. Vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2004 wurden einer Gruppe Kerry-Anhänger und einer Gruppe Bush-Anhänger je sechs Stellungnahmen ihres Kandidaten vorgelegt. Danach erfuhren sie eine Reihe von Tatsachen, die einen offensichtlichen Widerspruch zwischen der ersten Stellungnahme des Kandidaten und seinen nachfol-
genden Worten und Handlungen belegten. An diesem Punkt wurden die Probanden gebeten, diese Diskrepanz zu bewerten. In einem dritten Schritt wurde ihnen erneut eine Aussage vorgelegt, die geeignet war, die erste Information mit der zweiten in Einklang zu bringen, und sie wurden aufgefordert, den Grad des impliziten Widerspruchs erneut einzuschätzen.
Während der Präsentation der Aufgaben wurden bei den Testpersonen mit Hilfe der Kernspintomografie die Gehirnströme gemessen, um festzustellen, welche Teile des Gehirns am aktivsten waren. Die Forscher fanden heraus, daß Informationen, die an der Ehrlichkeit oder der Beständigkeit des Lieblingskandidaten zweifeln ließen, in den Teilen des Gehirns, die normalerweise mit Denken zu tun haben, keine erhöhte Aktivität auslösten. Stattdessen leuchtete ein ganzes Geflecht emotionaler Schaltkreise auf. Bei der Präsentation der dritten Stellungnahme, die die Möglichkeit enthielt, die ersten beiden Aussagen in Einklang zu bringen, wurden Gehirnschaltungen, die negative Emotionen wie Trauer und Ekel regulieren, abgestellt. Stattdessen wurden solche, die mit der Belohnung bestimmter Verhaltensweisen zu tun haben, aktiviert – ein Ergebnis, das vergleichbar ist mit der Reaktion von Drogensüchtigen nach Erhalt einer Dosis.
Drew Westen, Präsident des Fachbereichs klinische Psychologie an der Emory-Universität, beschrieb die Ergebnisse: »Es scheint, daß die Parteianhänger das kognitive Kaleidoskop so lange drehen, bis sie das gewünschte Ergebnis erhalten, und dann werden sie massiv dafür belohnt.«
Intelligenz hatte offensichtlich keine Wirkung auf die Reaktion der Testpersonen. Westen faßt die Ergebnisse so zusammen: »Alle, von Geschäftsleuten und Richtern bis hin zu Wissenschaftlern und Po-
litikern, argumentieren auf der Grundlage emotionaler Urteile, wenn sie ein persönliches Interesse daran haben, wie die ›Tatsachen‹ gedeutet werden sollen.«
Diese zugegebenermaßen vorläufigen Ergebnisse haben es in sich. Zum einen liefern sie den experimentellen Nachweis einer Beobachtung, die Rabbi Eliyahu Eliezer Dessler bereits in den späten 1920er-Jahren machte, als er sich mit dem Wissenschaftskult seiner Zeit auseinandersetzte. Rabbi Dessler schärfte seinen Schülern ein, sich vor den Forschungsergebnissen vorgeblich objektiver Wissenschaftler in acht zu nehmen, die in vielen Fällen durch deren Voreingenommenheit verzerrt seien.
Angenommen, ein Wissenschaftler schreibt, die Welt sei das Produkt rein zufälliger Ereignisse, die keinerlei Lenkung oder Zweck widerspiegelten, und behauptet, die moderne Wissenschaft stütze seine These. »Selbst wenn wir zugestehen, daß dieser Mensch über tiefe Intelligenz und exzellente Bildung verfügt«, so Rabbi Dessler, »müssen wir erkennen, daß seine moralische Veranlagung wahrscheinlich nur mittelmäßig ist und er sich mit seinen eigenen moralischen Defiziten niemals ernsthaft befaßt hat. In einer Streitfrage, von deren Entscheidung es abhängt, ob jemand gezwungen ist, beständig gegen seine niedrigeren Wünsche anzukämpfen (...) oder so leben kann, daß diesen Wünschen keinerlei Zwang auferlegt wird außer jenen Einschränkungen, über die er frei entscheidet«, sagt Rabbi Dessler, wird wohl niemand »ernsthaft glauben, daß er allein durch den Einsatz seiner intellektuellen Kräfte zu einer richtigen Schlußfolgerung gelangt.«
Die Emory-Ergebnisse helfen vielleicht auch ein Phänomen verstehen, das mir schon oft aufgefallen ist: die seltsame Immunität vieler Intellektueller gegen die empirische Wirklichkeit.
Intellektuelle lieben Theorien. Sie investieren emotionales Kapital in diese Theorien und verteidigen sie noch lange, nachdem die Widersprüche evident geworden sind, wie Thomas Kuhn in seinem klassischen Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen gezeigt hat. Sie wandeln die Theorie ab, um zu erklären, wa-
rum der Kaiser nackt ist, um nicht eingestehen zu müssen, daß er keine Kleider trägt. Die Psychoanalyse zum Beispiel gilt den westlichen Intellektuellen seit beinahe einem Jahrhundert als wahr, und das trotz eines eklatanten Mangels an empirischen Belegen sowohl für die Theorie als auch für ihren therapeutischen Nutzen.
Durch die Emory-Untersuchung verstehe ich die Ehrfurcht besser, die ich in der Anwesenheit von Menschen empfinde, die die innere Kraft hatten, den emotionalen Kern ihres Lebens auf seinen Wahrheitsgehalt zu überprüfen: Große Toragelehrte oder einfach nur Menschen, die zum Judentum zurückgefunden haben. Und Ehrfurcht ist angemessen, weil – wie die Emory-Untersuchung verdeutlicht – die Macht der Voreingenommenheit sehr groß ist und von unserem Gehirn erhebliche emotionale Unterstützung erhält.
Wafa Sultan ist eine syrischstämmige und arabischsprachige Psychologin, die in den Vereinigten Staaten lebt und den Mut besaß, im TV-Sender Al Dschasira offen zu sprechen: »Die Juden überstanden die Tragödie (des Holocaust) und zwangen die Welt, sie wegen ihres Wissens zu respektieren, nicht wegen ihres Terrors, mit ihrer Arbeit, nicht mit ihrem Weinen und Schreien ... Wir sahen keinen einzigen Juden, der ein Selbstmordattentat in einem deutschen Restaurant verübte. Wir sahen keinen einzigen Juden, der eine Kirche zerstörte.« Abgesehen von dem Mut, den dieser Auftritt gekostet hat, schien es wie ein Wunder, einen Menschen zu sehen, der sich in diesem Ausmaß von den Vorurteilen der muslimischen Gesellschaft befreite, in die er hineingeboren wurde.
Schließlich lernte ich durch die Emory-Untersuchung das im Talmud-Traktat Kidduschin in den Gemara beschriebene »Milchemet HaTora« aufs Neue zu würdigen. Das Chawruta-System der Studienpartnerschaft zwingt uns, das, was uns teuer ist – unsere eigenen talmudischen Auslegungen – einer unausgesetzten strengen Prüfung zu unterziehen. Jedesmal, wenn wir zu einem bestimmten Problem eine Lösung vorschlagen, sitzt uns ein Studienpartner gegenüber, der in unsere Gedanken kein Ego investiert hat und alles tun wird, sie zu widerlegen.
Alle, die mit diesem Lernsystem aufgewachsen sind, sind ununterbrochen gefordert, die natürliche Voreingenommenheit zugunsten ihres eigenen Intellekts zu überwinden und stattdessen die Wahrheit zu erforschen. Diese Schulung des Denkens ist weit davon entfernt, fehlerfrei zu sein. Wie Rabbi Dessler feststellte, kann es nur in Verbindung mit der Arbeit an unserem Charakter funktionieren. Aber grundsätzlich funktioniert es.
Jedesmal, wenn ein Toragelehrter in der Mitte seiner Schiur innehält, um die Frage eines Schülers zu beantworten, sind wir Zeuge eines raren Kraftakts: die Erhebung der Vernunft über die Emotion. Wie rar er ist, hat uns Drew Westen vorgeführt.

Der Autor ist Direktor von Jewish Media Resources, www.jewishmediaresources.com

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