Göttingen

Der Traum vom Haus

von Michael Caspar

Singend ziehen 100 Menschen vom Alten Rathaus zur nahen Roten Straße. Dort weiht die Jüdische Kultusgemeinde für Göttingen und Südniedersachsen, die seit 2005 besteht, ihre ersten eigenen Räume ein. Unter einem Baldachin, den Jugendliche tragen, schreitet der Braunschweiger Rabbiner Jonah Sievers voran. Er betreut die Göttinger Gemeinde mit ihren 50 Mitgliedern. Im Arm hält er die schwere Torarolle. Während er sie in den Toraschrein einbringt, drängen sich die Menschen im Betraum und dem langen Flur.
Anschließend stellen Gemeindemitglieder Tische und Stühle vor das Haus in die Fußgängerzone. Auf der Straße tanzen Frauen ausgelassen. In ihren Reigen reiht sich Stefan Wenzel ein, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Niedersächsischen Landtag. Hausbesitzer Anton Grüber, ein untersetzter Geschäftsmann mit grauem Vollbart, schaut erfreut auf das lebendige Treiben. »Dies ist ein altes jüdisches Haus«, betont er. 1899 wurde es von der Familie Löwenstein errichtet, die Anfang der 40er- Jahre von den Nazis in Vernichtungslager im Osten deportiert wurde. 1956 bekamen es Überlebende der Familie zurückerstattet. Als Grübers Tante das Gebäude Ende der 50er-Jahre kaufte, gingen die Briefe rund um die Welt, erinnert sich der Eigentümer. In den 90er-Jahren entdeckte er nach dem Auszug eines langjährigen Mieters im Keller ein jüdisches Tauchbad. Die Mikwe wurde einst mit Regenwasser gespeist. Heute sieht der Raum unwirtlich aus. In den Ecken hängen Spinnweben. Doch Anton Grüber will das Bad für die Gemeinde wieder herrichten.
Eine Mikwe war auch der Grund, warum sich 1895 orthodoxe Juden, darunter die Löwensteins, von der Jüdischen Gemeinde in Göttingen abspalteten. Daran hat eine Stunde zuvor während der Feierstunde im Alten Rathaus die Sozialdezernentin der Stadt, Dagmar Schlapeit-Beck, erinnert. Geld, das die Orthodoxen für den Bau einer Mikwe gespendet hatten, war für eine Orgel ausgegeben worden. »Jüdisches Leben ist vielfältig«, erklärte die Sozialdemokratin mit Blick darauf, dass es auch heute wieder zwei jüdische Gemeinden in der Stadt gibt.
Die Kultusgemeinde hat sich von der Jüdischen Gemeinde abgespalten. Die wiederum war 1994 wiederbelebt worden, als sich jüdische Kontingentflüchtlinge aus der früheren Sowjetunion in Göttingen niederließen. Bis 2001 war die Spanisch-Lektorin Eva Tichauer Moritz Gemeindevorsitzende. Nach ihrer Abwahl beschloss die Mehrheit der Mitglieder, dass sich die Gemeinde der Union progressiver Juden anschließt. Die engagierte konservative Minderheit um Tichauer Moritz entfremdete sich zunehmend. Im Juni 2002 gründete sie das überkonfessionelle Jüdische Lehrhaus Göttingen, das Bildungsveranstaltungen durchführt. Schon damals klagte die Mehrheit, dass dies die Verwirklichung eines jüdischen Zentrums erschwere. Verstimmt reagierte auch der Förderverein des Millionen-Euro-Projekts, dem viele Christen angehören. Mit Hilfe des Vereins wurde 2006 die alte Synagoge aus dem Weserort Bodenfelde in die Göttinger Angerstraße 14 versetzt. Derzeit erfolgt der Innenausbau. Die jüdische Gemeinde, die heute 180 Mitglieder hat, will das Gotteshaus im November einweihen. Dann jährt sich die Zerstörung der alten Göttinger Synagoge durch die Nazis zum 70. Mal.
Die Streitigkeiten zwischen Mehrheit und Minderheit führten schließlich zur Gründung der Kultusgemeinde, die sich dem Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen angeschlossen hat. Dessen stellvertretende Vorsitzende, Sarah-Ruth Schumann aus Oldenburg, mahnte während der Feierstunde trotz Pluralität ein geschlossenes Auftreten in der Öffentlichkeit an. Ihr Verband mache es mit seinen zwei orthodoxen und elf konservativ geprägten Gemeinden vor. Tichauer Moritz ermunterte die Göttinger, die Angebote beider Gemeinden »zu genießen«.
Ins Alte Rathaus war mit Dechant Norbert Hübner ein Vertreter der katholischen Kirche gekommen. Offizielle Vertreter der evangelischen Kirche blieben dagegen trotz Einladung fern. Als »beschämende Parteinahme« bezeichnete das der lutherische Pastor in Ruhe, Helmhard Ungerer.

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