Aristides de Sousa Mendes

Der Schindler von Portugal

von Michael Berger

»Wer ein Leben rettet, rettet die Welt« – die Inschrift auf dem Grabstein von Sousa Mendes war in Portugal jahrzehntelang der einzige Hinweis auf die Verdienste des Mannes, der als portugiesischer Generalkonsul in Bordeaux 30.000 Menschen verschiedenster Nationalitäten, darunter 10.000 Juden, durch Ausstellung von Visa vor den Nazis in Sicherheit gebracht hatte. Von der Salazar-Regierung aus dem diplomatischen Dienst entlassen, gesellschaftlich geächtet, starb er 1954 nach Jahren bitterer Armut an den Folgen eines Schlaganfalls.
Aristides de Sousa Mendes do Amaral e Abranches wurde am 19. Juli 1885 in Cabanas de Viriato, im Herzen Portugals, als Spross einer Familie aristokratischer Abstammung geboren. Sein Vater war Richter am Obersten Gerichtshof, sein Zwillingsbruder César in den Jahren 1932-33 als Außenminister Mitglied der Regierung des Diktators Antonio de Oliveira Salazar.
Aristides studierte Jura an der Universität von Coimbra. Nach Abschluss des Studiums im Jahre 1908 heiratete er seine Cousine und Jugendliebe, Maria Angelina Ri- beiro de Abranches. Kurz nach seiner Heirat trat Sousa Mendes in den diplomatischen Dienst ein. Seine Laufbahn führte ihn durch verschiedene Länder wie Britisch-Guayana, Sansibar, Brasilien und die USA. 1929 wurde er zum Generalkonsul in Antwerpen ernannt. Dort wurden Aristides und Angelinas 13. und 14. Kind geboren.
Die Jahre in Antwerpen schienen ein Höhepunkt in Sousa Mendes’ Karriere zu werden. Man ernannte ihn zum Doyen des diplomatischen Corps, sein Haus wurde zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens in Antwerpen. Überschattet wurde diese Zeit vom Tod seines Sohnes Manuel. Dies dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, dass er um seine Versetzung nach Ostasien bat. Doch Salazar ernannte Sousa Mendes gegen dessen ausdrücklichen Wunsch zum Generalkonsul in Bordeaux.
Der Dienstantritt Sousa Mendes’ im August 1939 fiel in die Wochen vor dem Überfall Deutschlands auf die Völker Europas. Salazar, dessen Politik von der Aufrechterhaltung der Neutralität Portugals bestimmt war und der darüberhinaus Sympathien für Hitlers »Kampf gegen den Kommunismus« empfand, erließ Weisung an seine Konsuln, dass an Ausländer mit unbestimmter Nationalität, an Staatenlose und an Juden, die aus ihren Herkunftsländern vertrieben wurden, keine portugiesischen Visa ausgestellt werden dürfen. Wenige Tage nach Eintreffen des als »Circular 14« bezeichneten Rundschreibens Salazars unterzeichnete Sousa Mendes ein Visum für einen jüdischen Flüchtling aus Wien, zahlreiche weitere Visa folgten.
Mit dem Vormarsch der deutschen Truppen stieg die Zahl der Flüchtlinge sprunghaft an. Ein großer Teil strömte ab Mitte 1940 in den unbesetzten Teil Frankreichs – Offiziere und Widerstandskämpfer aus den besetzten Ländern, verfolgte Schriftsteller und Intellektuelle sowie eine unübersehbare Zahl an jüdischen Flüchtlingen.
Sousa Mendes half mit der Ausstellung von Visa, wo er nur konnte. Oft blieben die per Fernschreiben nach Lissabon gesandten Anträge ohne Antwort. Im April 1940 hatte er gegen die Vorschriften bereits so oft verstoßen, dass er einen Verweis seiner vorgesetzten Dienststelle erhielt. Angesichts der verzweifelten Situation vieler Flüchtlinge hatten Angelina und Aristides ihr Haus für jene geöffnet, die ihre Hilfe am dringendsten benötigten, unter ihnen Chaim Krüger, ein Rabbiner aus Galizien, der mit Frau und fünf Kindern über Belgien nach Bordeaux geflohen war. Der Rabbiner und der Konsul wurden gute Freunde.
Im Juni 1940 wurde die Situation für die Flüchtlinge immer aussichtsloser. Die Reaktion Lissabons auf die Visa-Anträge blieb nach wie vor zurückhaltend. Zudem hatte Spanien am 12. Juni offiziell seinen Status von neutral auf »nicht Krieg führend« geändert. Damit geriet auch die mit Spanien verbündete Salazar-Regierung unter Druck.
Der Generalkonsul sah nur noch einen Ausweg. Am 17. Juni fasste er den Entschluss, an alle Flüchtlinge die notwendigen Papiere auszugeben. Gleichzeitig ließ er durch Rabbiner Krüger die Nachricht verbreiten, dass er ausnahmslos jedem ein Visum erteilen würde, »ungeachtet der Nationalität, Rasse oder Religion!« Im Akkord wurden die Dokumente bearbeitet, die Pässe in Säcken gesammelt, ausgefüllt, gestempelt und unterzeichnet. Wer keinen Pass besaß, erhielt sein Visum auf einem Blatt Papier. So konnten die Flüchtlinge über den einzigen von Spanien genehmigten Fluchtweg zwischen Hendaye und Irun die portugiesischen Häfen erreichen und von dort weiter nach Übersee fliehen.
In der Nacht des 19. Juni wurde Bordeaux von der deutschen Luftwaffe bombardiert. Die vor dem Konsulat wartende Menschenmenge flüchtete panisch in Richtung Bayonne und Hendaye, um die spanische Grenze zu erreichen. Sousa Mendes folgte dem Flüchtlingsstrom nach Bayonne – dort umlagerten bereits 25.000 Menschen das kleine portugiesische Konsulat – und übernahm in der ihm unterstellten Vertretung die Befehlsgewalt, um das in Bordeaux bewährte System der Visa-Ausstellung »am Fließband« fortzusetzen.
Das Drama erreichte am 22. Juni seinen Höhepunkt: Als bekannt wurde, dass Frankreich die Waffenstillstandsbedingungen der Deutschen akzeptiert hatte, brach unter den Flüchtlingen erneut Panik aus. Wer bereits Dokumente besaß, versuchte die spanische Grenze bei Hendaye zu erreichen. Aristides folgte den Flüchtlingen und verteilte die Visa auf den Straßen von Hendaye. Als der Grenzübergang von den spanischen Grenzbeamten geschlossen wurde, öffnete er eigenhändig die Schranke. Inzwischen waren in Bordeaux und Bayonne Telegramme aus Lissabon eingetroffen, in denen Sousa Mendes aufgefordert wurde, seine Aktivitäten umgehend einzustellen. Am 24. Juni sandte Salazar seinem Generalkonsul ein Telegramm mit dem Befehl, unverzüglich nach Portugal zurückzukehren. Sousa Mendes ließ sich Zeit. Bevor er am 8. Juli in Portugal eintraf, hatte er noch auf seinem Weg durch Frankreich zahlreiche weitere Dokumente unterzeichnet und so viele jüdische Flüchtlinge vor der Deportation in die Konzentrationslager bewahrt.
Aristides de Sousa Mendes hatte zahllosen Menschen das Leben gerettet, zurückgekehrt nach Portugal fiel er in Ungnade. Obwohl Salazar auch weiterhin die Grenzen Portugals für Flüchtlinge offenhielt, war er nicht bereit, seinem Konsul dessen Eigenmächtigkeit zu verzeihen. In einem Disziplinarverfahren wurde Sousa Mendes aus dem diplomatischen Dienst entfernt, seine Pension gestrichen, die Zulassung als Rechtsanwalt wurde ihm verweigert. Die finanzielle Situation der Familie begann sich drastisch zu verschlechtern, zumal auch die erwachsenen Kinder in Portugal keine Anstellung erhielten. Bald musste der Familiensitz in Cabanas de Viriato versteigert werden. Die Familie lebte nun in Lissabon, das Geld für Miete und Essen kam von der Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS). Angelina Ribeiro de Abranches starb1948 an den Folgen einer Gehirnblutung, Aristides am 3. April 1954 im Krankenhaus des »Ordem Terceira« in Lissabon.
Obwohl Sousa Mendes bereits 1966 als Gerechter unter den Völkern geehrt und ihm in Yad Vashem ein Hain von 10.000 Bäumen gewidmet wurde, begannen die Bemühungen um seine Rehabilitierung erst im Jahre 1986. Am 18. März 1988 ließ das Portugiesische Parlament offiziell alle gegen seine Person erhobenen Vorwürfe fallen, er wurde postum wieder in das diplomatische Corps aufgenommen und erhielt den höchsten Orden des Landes.
Die späte Rehabilitierung war jedoch kein Ausgleich für die Demütigungen, die Aristides und seine Familie ertragen mussten. Ihr Schicksal war kein Einzelfall. Carl Lutz, der Schweizer Vizekonsul in Budapest, Chiune Sugihara, der japanische Konsul in Kaunas, und Paul Grüninger, Polizeichef des Kantons St. Gallen, retteten zahllosen Juden das Leben und bezahlten ihren Einsatz mit dem Verlust der Karriere. Dass mehr als eine Million Menschen während des Zweiten Weltkrieges über Portugal vor den Nazis flüchten konnten, verdankten sie Aristides de Sousa Mendes. Er hatte das Tor in die Freiheit geöffnet.

Der Autor ist Berufsoffizier und Mitarbeiter im Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr.

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