biblische Formulierung

»Den Namen des Herrn anrufen«

von Rabbiner Carl M. Perkins

Schon früh in der biblischen Abraham-Erzählung – sobald er und seine Familie nach Kanaan ziehen – tut Abraham etwas, was ihn kennzeichnet und unfehlbar mit ihm assoziiert wird. Es ist etwas,

was tatsächlich ein Charakteristikum aller Patriarchen, ja des Archetyps einer religiösen Persönlichkeit ist: Er »rief den Namen des Herrn an« (1. Buch Moses 12,8).
Bevor wir nun gleich annehmen, dass wir wissen, was der Ausdruck bedeutet, wollen wir uns fragen: Was könnte er bedeuten? Denn vielleicht ist der Sinn gar nicht so offenkundig. Tatsächlich haben sich über die Jahre einige klar unterscheidbare Deutungen dieses Satzes herauskristallisiert.
Eine Erklärung besteht darin, dass der Ausdruck »likro b’schem Adonai« einfach »Gott anrufen« – anders gesagt: zu Gott beten – bedeutet. Das ergibt auch Sinn. Zwei der drei Male, die Abraham »den Namen des Herrn anruft«, steht er an einem Altar: Einmal pflanzt er eine Tamariske – wahrscheinlich an einem heiligen Ort. Auch Isaak errichtet einen Altar und »ruft den Namen des Herrn an«, so dass die Deutung: »er betete« sinnvoll ist. Und es ist die Erklärung, die Raschi gibt.
Doch ist es nicht die einzige Auslegung, die jüdische Bibelkommentatoren im Angebot haben. Ibn Esra, ein mittelalterlicher spanischer Kommentator, schlägt folgende Interpretation vor: Wenn der Text sagt, Abraham habe den Namen des Herrn angerufen, bedeute dies, dass Abraham im Gespräch mit anderen den Namen Gottes beschwor, um andere Menschen aufzurufen, Gott anzubeten.
Er rief also nicht Gott selbst an; er rief andere Menschen dazu auf, Gott anzubeten: Er war, wie man sagt, ein Missionar. Sicherlich spricht einiges für diese Deutung. Wenn geschildert wird, wie Abraham und Sarah Haran verlassen, um nach Kanaan zu ziehen, heißt es, sie führten mit sich »v’et ha’hefesh asher asu v’haran« – »die Seelen, die sie in Haran erworben hatten«. Diese Seelen fassen die Rabbiner als Menschen auf, die Abraham und Sarah überzeugt hatten, ihrem Vorbild zu folgen, Menschen, die sie zu ihrem religiösen Glauben bekehrt hatten.
Und drittens könnte den Namen des Herrn »anrufen« auch bedeuten, etwas im Namen des Herrn zu »verkünden«, vor anderen in der Gesellschaft zu predigen, wie sie leben und was sie tun sollten im Namen des Herrn – das heißt mit der Macht des Herrn hinter einem, so als spräche man: »Das ist der Wille Gottes.«
Nun, das hört sich gut an. Es klingt plausibel. Vielleicht sind alle drei Erklärungen plausibel – um das Verhalten eines Menschen zu beschreiben, der vor dreitausend Jahren lebte. Aber können wir uns vorstellen, diese Redewendung, ganz gleich, wie wir sie interpretieren, heute, im Jahr 2007, anzuwenden – ohne ein Zögern, ohne Unbehagen? Es fällt schwer, jemanden zu schätzen, der in unserer Zeit »den Namen des Herrn anruft« – tatsächlich macht sich so jemand leicht verdächtig.
»Den Namen des Herrn anrufen« in dem Sinne, dass man ein Gebet darbringt, erinnert uns an Charlton Heston, der seinen Stab erhebt und zusieht, wie sich das Wasser des Roten Meers teilt. Es ist ein magisches, vormodernes Verständnis der Idee, den Namen des Herrn anzurufen, um seine Freunde zu retten und seine Feinde zu bestrafen. Nicht gerade sonderlich ansprechend.
Was ist mit der zweiten Auslegung: »den Namen des Herrn anrufen« im Sinne von missionieren, das heißt andere Menschen zu überzeugen, dass sie die eigene Lebensweise annehmen sollten? Seit langem missbilligt das Judentum das Missionieren. Wir begrüßen zum Judentum Konvertierte, doch wir sagen nicht, das Ju-
dentum sei die einzige Lebensweise, der einzige Weg, sich Gott zu nähern, die einzige Weise, ein guter Mensch zu sein. Wir tun das nicht. Und ich brauche nicht extra zu betonen, dass wir uns unbehaglich fühlen, wenn man versucht, uns zu bekehren. Wir mögen es nicht, wenn andere wollen, dass wir ihren Glauben annehmen.
Und die dritte Erläuterung: »den Na-
men des Herrn anrufen« im Sinne von: predigen, was Gott will und was Er nicht will? Für viele von uns, davon bin ich überzeugt, beschwört das den wertenden, frömmelnden Prediger herauf, der anderen sagt, was gut für sie ist – was dann lediglich zu der Frage führt, ob er tief drinnen selbst an das glaubt, was er predigt.
Ich hoffe, dass wir jenen mit Skepsis begegnen, die behaupten, sie wüssten, was Gott will oder, präziser, was er nicht will, und die viel Zeit damit verbringen, Menschen im Namen des Herrn zu verdammen.
Was bleibt also übrig von dem Satz »den Namen des Herrn anzurufen«? Müssen wir ihn als eines jener Überbleibsel aus einem früheren Entwicklungsstadium der Menschheit verwerfen, als etwas, was wir nicht mehr gebrauchen, ja nicht mehr tolerieren können?
Ich hoffe nicht. Ich glaube, auch in dem aufgeklärten, postmodernen und post-theistischen Zeitalter, in dem wir leben, steckt noch eine Menge Wert in der Idee, den Namen des Herrn anzurufen.
Welchen positiven Gehalt kann der Satz »den Namen des Herrn anrufen« für uns heute noch haben?
Erstens den Wert der Demut. »Den Na-
men des Herrn anrufen« im Sinne von »Gott anbeten« ist ein Zeichen der Demut – oder kann es sein. Ein Zeichen, dass man Gott, das Ideale, anruft, statt sich selbst, das Reale. Gott ist der Inbegriff der Tugend. Wir hingegen sind zu beidem fähig, zur Sünde und zu guten Taten. Liegt das Zeitalter der Demut hinter uns? Ich hoffe nicht. Ich hoffe, dass es für den religiösesten Wert, die Demut, immer Raum geben wird, auch in der postmodernsten aller Welten.
Zweitens die Idee, dass wir nicht hundertprozentig objektiv sein können. Wir sind Menschen, jeder mit seinen eigenen Vorurteilen. Den Namen des Herrn anzurufen bedeutet, uns zu vergegenwärtigen, dass die Quelle der Gerechtigkeit, der Fairness, außerhalb von uns liegt. Auch darin drückt sich wieder Demut aus.
Und schließlich ist »den Namen des Herrn anrufen« auch heute noch ein Ausdruck der Ehrfurcht, des Staunens und der Dankbarkeit im Angesicht der Schöpfung. Sind wir dem Zeitalter der Gebete, der Dankbarkeit, der Ehrfurcht entwachsen? Ich hoffe nicht!
Und obschon »den Namen des Herrn anrufen« zu einem beinahe peinlichen Begriff geworden ist, vor allem in diesen hinter uns liegenden Tagen, hoffe ich, dass wir versuchen werden, ihn für uns zurückzufordern.
Ich hoffe, dass wir danach streben, den Namen des Herrn anzurufen, indem wir: begreifen, dass wir verletzlich, begrenzt, voller Fehler sind; begreifen, dass es moralische Werte gibt, die von unseren eigenen Bedürfnissen und Wünschen unabhängig sind; begreifen, dass es viel gibt, wofür wir dankbar sein sollten; und dass wir unsere Dankbarkeit zeigen sollten, indem wir den Namen des Herrn anrufen – einzeln und in der Gemeinschaft.

Mario Voigt mit Stimmen der Linken zum Ministerpräsident gewählt

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