Schulim Salzmann

»Das liegt mir im Blut«

Kürzlich haben mich Studenten der hiesigen Fachhochschule eingeladen, um in ihrem Kulturkeller jüdische Anekdoten und Geschichten vorzutragen. Es war ein buntes Programm. Und weil ich den Unterschied zwischen Jiddisch und Deutsch erklären wollte, habe ich folgenden Witz erzählt, auf Jiddisch: Ein Jude eilt auf den Bahnsteig. Während der Zug gerade losfährt, fragt er den Schaffner: »Wohin fährt er denn, der Zug?« »Erfuuurt! Erfuuurt!«, antwortet der Schaffner. »Ja, das sehe ich! Aber wohin?« Die meisten Witze, die ich kenne, sind auf Russisch, und leider gelingt es nicht, sie so zu übersetzen, dass sie ihren ursprünglichen Charakter und Sinn beibehalten. Jetzt wollen die Studenten gemeinsam mit mir sogar ein Buch machen. Aber ich habe damit noch nicht angefangen. Erst mal fahren meine Frau und ich nach Israel, wir besuchen dort alte Freunde aus Belz, unserer ehemaligen Heimat. Deswegen habe ich gerade heute unsere Reisepässe verlängert. Und dann will ich meinen 70. Geburtstag feiern, dafür muss ich noch viel vorbereiten.
Belz liegt in Moldawien. Dort bin ich geboren und aufgewachsen. Normalerweise spricht man in Moldawien Rumänisch. Bei uns zu Hause aber haben wir immer nur Jiddisch gesprochen. Das hat mir später geholfen, schneller Deutsch zu lernen. Vor zehn Jahren kamen wir nach Fulda. Noch bevor wir eine eigene Wohnung hatten, ging ich damals in die jüdische Gemeinde und brachte einen Zettel am Schwarzen Brett an, auf dem ich Unterricht in jüdischem Volkstanz anbot. Schon nach wenigen Tagen meldeten sich viele Interessierte bei mir. Und dann bat mich die damalige Vorsitzende, mit den Kindern etwas Schönes für Chanukka einzustudieren.
Seitdem bin ich der Tanzlehrer in der jüdischen Gemeinde in Fulda und unterrichte jeden Mittwoch Kinder und Erwachsene in jüdischen Volkstänzen. Selbst heute noch. Obwohl mir letztes Jahr wegen Problemen mit dem Bypass mein linkes Bein amputiert werden musste. In der Reha-Klinik haben die Krankenschwestern damals gestaunt, wie aktiv ich von An- fang an trainiert habe und dass ich schon bald wieder ohne Krücken gehen konnte. Auf einem Bein stehen, ist für mich einfach – rein technisch gesehen. Das habe ich ja als ehemaliger Tänzer gelernt. Aber es ist keine leichte Situation, und ich kann mich nicht wirklich daran gewöhnen. Oft träume ich, dass ich mein Bein noch habe, dann sehe ich es und kann es bewegen. In Wirklichkeit muss ich jeden Tag Schmerztabletten nehmen. Aber ich gebe immer noch jeden Mittwoch Tanzkurs – jetzt mit einer Helferin, die mich bei Bedarf auch mal stützt, wenn ich etwas demonstriere.
Mit dem Tanzen habe ich als 9-Jähriger begonnen, schon mit 17 leitete ich die Volkstanzgruppe »Bukuria«, die damals in der ganzen Sowjetunion unterwegs war. Dann arbeitete ich lange im jüdischen Theater in Belz und war im Ensemble der Schwarzmeerflotte. Als ich Probleme mit dem Knie bekam, konzentrierte ich mich aufs Unterrichten und Choreographieren. Dieser Arbeit verdanke ich viele Kontakte und Reisen. 2005 habe ich sogar in einer jüdischen Gemeinde in Kalifornien unterrichtet und regelmäßig in den letzten Jahren auch bei der Jiddischen Musik- und Theaterwoche in Dresden mit meinem alten Freund, dem Regisseur und Schriftsteller Michael Felsenbaum, zusammengearbeitet.
In der jüdischen Gemeinde bin ich unter der Woche fast jeden Tag, nicht nur wegen der Tanzkurse, sondern auch, weil ich der Hausmeister bin – und Chasan. Vor fünf Jahren entschloss ich mich dazu, die hebräischen Texte zu lernen. Da habe ich sehr viel zu Hause gebüffelt und dann noch einige Kurse absolviert. Aber das Lernen hört nie auf! Auch nicht die Faszination für die Sprache und die Melodien, die ich als Kantor dazulernen kann. Dies ist übrigens noch ein Grund, warum ich demnächst nach Israel reise: Ich will mich dort weiterbilden. Heute gibt es in der jüdischen Gemeinde in Fulda jede Woche montags, freitags und am Schabbat einen Gottesdienst, den ich als Kantor begleite. Obwohl in Moldawien aufgewachsen, ist mir die Religion sehr wichtig geworden. Ich glaube, das liegt mir im Blut: Ich bin ein Kohen.
Diese Woche haben wir den weiteren Ausbau des Kellers im Gemeindehaus geplant. Wir haben dort einen kleinen Fitnessraum mit Tischtennis, ein Café, ein Pool-Billard und einen Raum für unseren Schachklub untergebracht. Die jungen Leute wollen jetzt eine eigene Tanzfläche, und wir überlegen, wohin sie am besten passt. Heute helfe ich nur noch beim Planen und Organisieren. Als ich in Fulda ankam, ging es mir vor allem darum, für den Tanzunterricht einen eigenen Übungsraum zu bekommen, mit einem schwingenden Holzfußboden und Spiegeln, die ich mir inzwischen alle peu à peu auf dem Sperrmüll zusammengesucht habe.
Beim Tanzunterricht sind wir zurzeit drei Männer und fünf Frauen. Wir machen inzwischen alle Arten von Volks- und Straßentänzen, nicht nur jüdische, sondern auch tschechische, spanische und Tänze der Roma. Manche wundern sich über den Begriff »Straßentänze«, doch weil es in Israel ja meist warm ist, finden die Feste eben auch auf der Straße statt, und da wird getanzt.
Vor Jahren habe ich mir im Keller des Gemeindehauses eine kleine Werkstatt eingerichtet, die zeitweise zu meinem zweiten Zuhause wurde. Früher habe ich dort auch meine Tanzkleidung genäht, heute repariere ich in der Werkstatt nur noch Kleinigkeiten, zum Beispiel einen Queue. Denn ich habe das Billard-spielen für mich entdeckt, und es ist zu einem meiner Hobbys geworden – neben dem Witzeerzählen. Kennen Sie den: Kommt ein Mann zu einem Therapeuten und fragt: »Jede Nacht träume ich von Mäusen, die Eishockey spielen. Können Sie mir nicht helfen?« Sagt der Therapeut: »Natürlich! Nehmen Sie morgen vor dem Schlafen diese Tabletten, und es wird aufhören.« Fragt der Mann: »Ach, bitte, kann ich vielleicht auch erst übermorgen mit den Tabletten beginnen?« »Ja, aber warum denn?«, fragt der Arzt. »Nun ja, morgen ist das Endspiel.«
Wenn ich Zeit habe, mache ich jeden Tag an der frischen Luft Gymnastikübungen, um meine Muskulatur zu stärken. Manchmal gehe ich in den Park um die Ecke, ein andermal bleibe ich zu Hause auf dem Balkon. Trotz der neuen Situation kann ich mich mit meiner Beinprothese und dem automatikgetriebenen Auto immer frei bewegen.
Als wir kürzlich Besuch von meinem Neffen und seiner Freundin aus Israel hatten, habe ich ihnen Fuldas Sehenswürdigkeiten gezeigt und auch das etwas außerhalb liegende Schloss Adolphseck. Zu meinem Geburtstag werden sie wiederkommen, auch mein Sohn, der mit seiner Frau und unserem Enkel in Wien lebt. Und meine anderen Neffen werden kommen, die Musiker sind. Uns alle verbindet die Liebe zum Klesmer. Meine Neffen spielen in der Band »Freylich«, die ziemlich bekannt ist und vielleicht auch zu meiner Geburtstagsfeier in der jüdischen Gemeinde spielt.
Ich lebe gern hier in Fulda. Die Stadt erinnert mich von der Größe her ein bisschen an meinen Geburtsort Belz. Große Metropolen gefallen mir nicht so. Außerdem mag ich es, Pilze sammeln zu gehen. Gestern erst bin ich wieder mit einem großen Korb voller Steinpilze und Hallimasch von einem Spaziergang zurückgekommen. Ja, es ist alles auch eine Sache der Einstellung.

Aufgezeichnet von Reinhold Jordan

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