Vilém Flusser

Das Leben – ein Spiel

von Carl D. Goerdeler

»Ich bin der Sohn Prager Juden, wohlhabender und intellektueller Bürger; meine Kindheit und Jugend erlebte ich in der geistig und künstlerisch berauschenden Atmosphäre Prags, zwischen den zwei Kriegen. Ich überlebte betäubt das bestialische und blöde »Erdbeben« des Nazismus (das meine Welt verschlang und zwar nicht nur meine Anderen und meine Dinge, sondern auch meine Wertmaßstäbe, die meine Welt strukturiert hatten). Von den Furien der Ereignisse wurde ich nach Brasilien geschleudert – wo es eine modellierbare, sehr amorphe, eine in jeder Hinsicht, auch im ontischen Sinne, hungrige und durstige Situation gibt. Ich wurde in einem noch modellierbaren und anpassungsfähigen Alter nach Brasilien geschleudert, so dass ich die letzten dreißig Jahre auf der Suche nach mir selbst in Brasilien und auf der Suche nach Brasilien in mir selbst verbracht habe.« (Vilém Flusser)

Diese Selbstauskunft schrieb Vilém Flusser im November 1969 in São Paulo nieder, drei Jahre, bevor er das Land verlassen würde, in das er 1940 geworfen wurde, und in dem er über die Hälfte seines Erwachsenenlebens verbrachte. Flussers Werke, die er auf Deutsch, Portugiesisch, Englisch oder Französisch schrieb (kaum aber in seiner »Stiefmuttersprache« Tschechisch) sind einem kleinen Kreis bekannt. Er gilt als Medienphilosoph, Existenzialist oder Strukturalist. Seine Philosophie ist hochaktuell, und er schreibt so, dass ihn auch Laien verstehen. Wer war dieser Mann? Und wie hat ihn Brasilien geprägt?
Vilém Flusser kommt am 12. Mai 1920 in Prag zur Welt, sein Vater, ein Sozialist, lehrt Mathematik an der Karls-Universität. Für den Philosophiestudenten Vilém ist Prag eine wahrhaft multikulturelle, kosmopolitische Stadt, die Welt in einer Nussschale. »Ob man nun Tscheche, Deutscher oder Jude war – das war ganz gleichgültig: Wir waren alle Prager, und das zählte.« Dem Intellektuellen fällt es schwer, sich zum Judentum zu bekennen: »Die orthodoxen Juden stammten aus Galizien – und sie waren exotischer als die Katholiken oder Lutheraner. Im Grunde war man nicht wegen der Religion jüdisch – man war es, um die alte christliche Orthodoxie zu überwinden.« Und man war natürlich marxistisch: »Man konnte weder Jude noch Christ sein – es blieb nur der Marxismus. Das war typisch für die Juden zwischen den Kriegen, und in Prag war es die Regel.«
Mit dem Einmarsch der Nazitruppen brach diese Welt zusammen. Vilém Flusser gelingt die Flucht nach London – Vater, Mutter, Bruder ermorden die Nazis in den Gaskammern. Was ihm blieb, war »Selbstmord« oder »Philosophie«: eine Philosophie der Bodenlosigkeit, des radikalen Relativismus. Daher konnte sein Stand- und Fluchtpunkt nicht exotisch genug sein. 1940 können Vilém und seine Frau Edith Barth einen Frachter nach Brasilien erwischen. In São Paulo schlägt sich Vilém Flusser mit Brotjobs durch: »Tagsüber Geschäft, nachts Philosophie.« Besonders fasziniert ist er von der aufkommenden Kommunikations- und Wissenschaftsphilosophie; er veröffentlicht unzählige Beiträge in der Presse, er wird, als akademischer Außenseiter, so etwas wie ein brasilianischer Jean-Paul Sartre mit einer wachsenden Fangemeinde. Jedoch der Universitätsbetrieb bleibt ihm fremd: »Mein Verhältnis zu meinen Kollegen war für mich beinahe unerträglich, und ich konnte ihrem Spiel um Status nie ohne Widerwillen zusehen. Die meisten meiner Schüler hatten es auf Diplom und Karriere abgesehen, und ich hatte ihnen ebenso wenig zu bieten wie sie mir.«
Über seine Lage als Außenseiter in Brasilien hat Vilém Flusser immer wieder reflektiert. Diese Gedanken fließen auch in sein Werk Brasilien oder die Suche nach einem neuen Menschen ein, wenn er über das Gefühl der Verfremdung und Verzerrung schreibt, die den europäischen Beobachter erfasst, der so viele Ähnlichkeiten mit seiner Heimat beobachtet, dann aber zu seiner Verblüffung feststellen muss, dass alles ganz anders ist – schon in den Dimensionen: »Brasilien mit seinem gigantischen Hinterland« sei so groß, dass die Menschen von ihrem Land und sich selbst keinen Besitz ergriffen hätten und sich »wie Treibgut« in »unendlich weit abrollenden Hochebenen verlieren«. Ebenso sei Brasilien ein Land ohne Geschichte, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft – ein Land des Präsens.
Das Verhältnis der Brasilianer zur Natur und Kultur regt Flusser zu einem längeren Diskurs an. »Der Brasilianer ist mit der Natur nicht verbunden. Entweder lebt er mitten in ihr und ist schwer von ihr zu unterscheiden. Oder aber er geht gegen sie vor mit Feuer und Eisen.« Für die Brasilianer ist die Natur nicht die »nährende Scholle«, die »Mutter Natur«, sondern ein Feind, den es niederzuringen gilt. In Brasilien sei der Gegenpol zur Natur die Kultur. Und Letztere sei »diachron«, nicht geprägt durch Gegenstände, Skulpturen, Werkzeuge – sondern durch das Verhalten, die Geste, den Rhythmus, die Musik. Der Autor lässt sich von diesem Gedanken so mitreißen, dass er eine Ode verfasst: »Das rhythmische Wiegen der Hüften der Mädchen (auch der Vierjährigen), der tänzelnde Schritt der Burschen, das weltverschlossene Lächeln, das rhythmische Klopfen auf Streichholzschachteln und mit Kochlöffeln begleitet, das Schreibmaschineschlagen, als wäre sie eine Tam-Tam-Trommel, die rituell graziöse Art, mit der Lausbuben Fußball spielen und miteinander balgen, die Abwesenheit jeder Vulgarität und die Eleganz, mit welcher selbst Messerstechereien in Vorstadtlokalen ausgeführt werden, all dies und anderes verleiht dem brasilianischen Alltag jene beinahe gepflegte Kultiviertheit, die so stark vom europäischen Alltag absticht.«
Brasilien ist – das ist Flussers Kernthese – ein Land, in dem ein neuer Mensch und eine neue Kultur entstehen. Nicht auf der Basis des Christentums, des Kant’schen Imperativs oder des Marxismus, sondern durch die Entfaltung seiner kreativen und spielerischen Kräfte. Denn das Spiel mit der Wirklichkeit ist die Leidenschaft der Brasilianer: »Die Angst und Sorge, von der der Brasilianer erfasst wird, ist im Grunde diese: Wir sind elend und werden immer elender, weil wir uns und die Welt um uns herum zu ernst nehmen. Dann hören wir auf, miteinander zu spielen, und darum sind wir elend. Denn wir vereinzeln und verlieren einander, und damit verlieren wir uns selbst.«
Das Spiel als der »Sinn« des Lebens – diese These findet sich bei Vilém Flusser immer wieder. Seine Philosophie, so klagt er jedoch, werde in Brasilien höchstens oberflächlich rezipiert – der Prager Jude, der Weltbürger und Nomade verlässt Brasilien 1972, während der Militärdiktatur, und kehrt nach Europa zurück. Am 27. November 1991 stirbt Vilém Flusser an den Folgen eines Autounfalls, einen Tag nach seiner aufwühlenden Wiederbegegnung mit Prag.

»Wenn ich mich in Brasilien nicht gefunden habe und Brasilien nicht in mir, bedeutet es, dass ich den Boden meines In-der-Welt-Seins nicht gefunden habe. Auf diese Weise formuliert, erhält mein Scheitern eine religiöse Qualität. Mein Leben war ein Leben ohne Religion, in Suche nach Religion; ist das nicht eine Definition der Philosophie, zumindest einer Art von Philosophie?«

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