Wohlstand und Körpergröße

Damit du groß und stark wirst

von Vera von Wolffersdorff

John Komlos ist ein kleiner, freundlich wirkender Mann. Konzentriert sitzt er auf einem Stuhl in seinem Büro an der Münchner Universität. Gelassen sieht er aus, er spricht ruhig und unaufgeregt. Komlos ist Professor für Wirtschaftsgeschichte, sein Forschungsgebiet ist die Anthropometrie. Dabei wird untersucht, wie sich ökonomische, politische und soziale Faktoren auf das Größenwachstum der Menschen auswirken. »Mein Fach zeigt, wie die Wirtschaft ein humanbiologisches System beeinflußt. Das ist eine neue Sichtweise, um menschlichen Wohlstand zu messen. Es geht um die Frage, wie sich die Volkswirtschaft auf den ›biologischen’ Wohlstand auswirkt«, umreißt Komlos den ungewöhnlichen Forschungsansatz.
Neben Wirtschaftswissenschaften studierte er auch Geschichte. »Vielleicht bin ich darum weniger dogmatisch als viele Wirtschaftswissenschaftler, weniger materialistisch«, überlegt Komlos laut. Souverän, leicht abgeklärt, faßt er seine Gedanken in Worte. Er läßt sich Zeit, sucht nach dem exakt passenden Ausdruck: »Wir zeigen, daß es verschiedene Perspektiven gibt, um die menschliche Entwicklung und den Wohlstand zu untersuchen. Nicht nur das Bruttosozialprodukt erklärt, wie Menschen auf ihre Umgebung reagieren.« So ist das Pro-Kopf-Einkommen in den USA eines der höchsten der Welt. Und doch werden die Amerikaner statistisch gesehen seit den sechziger Jahren immer kleiner.
Ökonomie unter anderen Gesichtspunkten zu betrachten als unter dem Diktat des monetären Wachstums – dazu tragen Anthropometriker mit ihren ungewöhnlichen Datenerhebungen bei. Seit drei Jahren gibt Komlos die Zeitschrift Economics & Human Biology heraus, mehr als 500.000 Daten haben er und seine Mitarbeiter in den vergangenen 24 Jahren gesammelt und ausgewertet. Mit erstaunlichen Ergebnissen: Das Wohlergehen einer Gesellschaft läßt sich auch an der Körpergröße der Menschen ablesen. Über Größenunterschiede innerhalb einer bestimmten Population entscheiden Erbanlagen. Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen hingegen hängen maßgeblich von Umwelteinflüssen ab: vorgeburtlicher Betreuung, ausreichender Ernährung und medizinischer Versorgung.
Biologen gehen davon aus, daß Menschen in drei Schüben wachsen: Den ersten erleben wir als Säuglinge, den zweiten zwischen sechs und acht Jahren, den letzten in der Pubertät. Muß ein Kind in einer dieser Phasen hungern, wird sein Wachstum unterbrochen.
Für seine Studien hat Komlos jegliche Gruppen, über deren Körpergröße Buch geführt wurde, untersucht und verglichen. »Absolventen der École Polytechnique, die Napoleon im frühen 19. Jahrhundert gründete, sind sieben Zentimeter größer als junge Männer, die zur gleichen Zeit in der Armee gedient haben. Soziale Unterschiede werden da deutlich«, erläutert Komlos. Die Studenten bekamen besseres Essen und lebten unter hygienischeren Bedingungen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Deutschen sechs bis sieben Zentimeter größer geworden. Komlos bilanziert und dreht beim Reden eine Handfläche bedächtig nach oben, um zu betonen, was er sagen will: »Das zeigt einerseits die Produktivität der Wirtschaft, andererseits die gute medizinische Versorgung. Innerhalb Westeuropas sind Deutsche verhältnismäßig groß, aber kleiner als Skandinavier oder Holländer. Man könnte das soziale System noch besser gestalten«, sagt Komlos lächelnd.
Geboren ist er 1944 in Budapest. Die Russen hatten gerade die Stadt bombardiert, Nahrung war knapp. Die erste Wachstumsphase von John Komlos kann als unterbrochen gelten. Als seine Eltern mit ihm und seinem Bruder in die USA emigrierten, war er zwölf. Unerträglich heiß muß es gewesen sein, als sie dort ankamen: Sommer in Chicago. Komlos verdiente ein paar Cent mit dem Sammeln leerer Flaschen. Das Leitungswasser war zu gechlort, um es zu trinken – und für andere Getränke hatten sie kein Geld. »Furchtbar, dieser Durst«, erinnert sich Komlos. Vielleicht sensibilisierten ihn diese frühen Erfahrungen mit Hunger und Durst für das Thema, dem er sich später ausgiebig widmete.
Trotz des Besuchs von Schule und Universität fühlte sich Komlos in den USA nie ganz heimisch. »Nein«, sinniert er, »ich wollte mich nie anpassen.« Obwohl die Familie nach Anfangsschwierigkeiten in der neuen Heimat gut Fuß faßte. Für seinen Vater, der unter den Kommunisten in Ungarn im Gefängnis gesessen hatte, blieben die USA zeitlebens das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«. Den Sohn aber begleitete ein Leben lang das Gefühl, nicht dazuzugehören. Schon als Jude in Ungarn empfand er sich als Außenseiter. In den USA änderte sich daran nichts: »Normalerweise sind die Einwanderer ja immer amerikanischer als die Amerikaner selbst. Bei mir war das anders«, erzählt Komlos. Bedauern schwingt in seiner Stimme nicht mit. Als intellektuellen Spätzünder charakterisiert er sich, seine akademische Laufbahn war alles andere als vorgezeichnet. »Ich verbrachte zwanzig Jahre in Archiven ohne zu wissen, ob meine Arbeit je Erfolg haben würde.« Ob er stur sei? »Ja«, sagt er, »stur und hartnäckig. Aber man braucht vor allem Geduld.« Er hatte keine feste Anstellung, lediglich seine Faszination für die Daten, die er sammelte, trieb ihn an. Zweifelte er an dem, was er da tat? »Natürlich«, gibt Komlos freimütig zu. »Meine Forschungen hätten ja auch in einer Sackgasse enden können. Dann hätte ich 20 Jahre investiert – ohne Ergebnis.« Und seine Motivation? Komlos denkt lange nach, stützt seine Ellbogen auf die Stuhllehnen, verschränkt die Hände ineinander. »Mein Interesse galt immer der Grundlagenforschung. Studieren, forschen, einfach lernen, um etwas zu lernen.« Er wirkt ganz entspannt, wenn er das sagt. Das Vorbild des Vaters, der als ungarischer Zwangsarbeiter nach Rußland an den Don verschleppt worden und später tausend Kilometer zu Fuß zurück nach Budapest marschiert war, hatte er immer vor Augen. Es hielt ihn auch in schwierigen Zeiten bei der Stange. Und half, eigene Probleme zu relativieren.
Noch Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Deutschen und die Niederländer sieben Zentimeter kleiner als die Amerikaner. Heute sind sie vier bis sechs Zentimeter größer. Materieller Wohlstand ist also nicht identisch mit dem, was Komlos »biologischen Lebensstandard« nennt. »In den USA sind vierzehn Prozent der Bevölkerung ohne Krankenversicherung, das sind immerhin 40 Millionen Leute. Das soziale System bestimmt, wie der technische und medizinische Fortschritt die eigenen Bürger erreicht«, erklärt Komlos.
Allerlei Interessantes bringt das Studium der Größenaufzeichnungen ans Licht: Die Landbevölkerung in der DDR, die paradoxerweise weniger gut mit Nahrung versorgt war als die meisten Städter, blieb 2,2 Zentimeter kleiner als die Menschen in den Ballungszentren. 1989 waren die Wessis den Ossis insgesamt noch um zwei Zentimeter Körpergröße voraus. Zehn Jahre später hatten die Ostdeutschen aufgeholt: »Die 19jährigen Rekruten der Bundeswehr waren Ende der neunziger Jahre gleich groß«, erzählt Komlos. Die pubertäre Wachstumsphase erlebten alle im wiedervereinigten Deutschland – und sind deshalb gleich stark in die Höhe geschossen.
1992 erhielt Komlos den Ruf nach München, davor war er sechs Jahre an der Universität in Pittsburgh tätig. Ganz ohne Bedenken fiel die Entscheidung für ein Leben in Europa nicht. Heute ist er froh, mit seiner Familie wieder ein Stück jüdischen Lebens in München zu etablieren. Sein Sohn spielt Fußball in einem jüdischen Sportverein. »Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Ich habe mehr erreicht, als ich erreichen wollte«, resümiert er bescheiden, faltet die Hände und lehnt sich in seinem Stuhl zurück – ganz entspannt.

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