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Eigentlich wollte sie nur Eis essen. Frauke Böll hat im Café »San Remo« zwei große Portionen gekauft. Nun balanciert sie die beiden Waffeln über den Platz. Sie lächelt ihrem Mann zu, der am anderen Ende auf einer Bank sitzt und in die Altweibersonne blinzelt. »Hier, dein Eis«, sagt sie, »Pistazie, Walnuss und Vanille.« Mit einem Tempotaschentuch wischt sie die Bank sauber, dann setzt sie sich.
Was war denn das? Frauke Böll dreht sich um: In der Eibenhecke hinter ihr hängt, zwischen den Zweigen, ein kleiner grüner Lautsprecher. Verwundert schaut sie ihren Mann an. Der zuckt mit den Schultern und grinst: »Das warst du.«
In der Tat. Seit Dezember vergangenen Jahres gibt es in der Kleinstadt Dülmen im Münsterland eine dauerhafte Audioinstallation. Der Lautsprecher ist ein Teil davon. Er hängt am oberen Ende des Eichengrün-Platzes hinter einer Bank. Wer darauf sitzt und sich leicht nach hinten lehnt, löst ein Klangzeichen aus. Idee und Konzept stammen von der Berliner Schriftstellerin Esther Dischereit. 55 Text- und Musikstücke stehen zur Auswahl, ein Zufallsgenerator bestimmt, was gespielt wird. Kein Hinweisschild, keine Erklärungen, nichts. Doch wer sich einige Klangfetzen anhört, findet bald heraus, dass die Installation an die jüdischen Bürger der Stadt erinnern soll. Seit 70 Jahren gibt es keine Juden mehr in Dülmen.
Wer heute nach Dülmen kommt, merkt schnell, dass die knapp 700-jährige Stadt nicht arm ist. Es gibt eine große Sporthalle und ein Mehrgenerationenhaus, etliche Bioläden und viele schmucke Backsteinhäuser mit gepflegten Vorgärten und gestutztem Rasen, am Rand der Stadt weiden zahllose Pferde auf saftigen Koppeln. Manche sagen, Dülmen habe seinen Wohlstand auch den Juden zu verdanken, die früher hier lebten, Geschäfte führten und sich durch manche gute Tat in die Gemeinschaft der Stadt einbrachten.
Als Esther Dischereit das erste Mal nach Dülmen kam, war sie enttäuscht von dem dreieckigen Platz, den die Stadtväter für die Erinnerung an die jüdischen Bürger vorgesehen hatten: auf der einen Seite eine stark befahrene Straße, auf der anderen eine Pizzeria, zwei Cafés, ein Reisebüro – und in der Mitte an runden Plastiktischen Dutzende Menschen, schleckend, schlürfend, schmatzend. »Kein kontemplativer Ort«, glaubte Dischereit, »für ein Gedenken kaum geeignet.«
Doch allmählich verflogen die Zweifel der 57-Jährigen, die selbst aus einer jüdischen Familie stammt. »Eigentlich ist es doch egal, ob der Platz mir gefällt«, dachte sie. Wichtig sei, dass ihn die Menschen benutzen. Aber das Gedenken so mitten im Alltag, ist das nicht respektlos? »Nein, die Juden gehörten früher zum Alltag dieser Stadt, genauso wie ihr Fehlen heute zum Alltag gehört«, sagt Dischereit.
So entschied sie sich, die Widrigkeiten des Ortes – den Autolärm und die Musikbox, die gelegentlich aus der Pizzeria herüberdröhnt – in ihr Konzept einzubeziehen. Sie bat den Wiener Komponisten Dieter Kaufmann, mit ihr zusammenzuarbeiten. Sie kennt ihn von anderen Projekten: »Er ist jemand, der diese Tonalität nicht als störend empfindet, sondern aufnimmt.« Und in der Tat, wer sich heute auf der Bank am Eichengrün-Platz die Klangsplitter anhört, staunt darüber, wie gekonnt sie sich in das geschäftige Alltagsleben der Stadt einfügen.
Jetzt im Herbst bleibt die Bank vor der Installation oft leer. Ob es daran liegt, dass es dort fast den ganzen Tag lang schattig ist? An den Tischen in der Mitte des Platzes sitzen viele Menschen, genießen die letzten Sonnenstrahlen, lassen sich ein Stück Kuchen bringen, eine Pizza oder einen Latte macchiato. Mancher, der nur ein Eis in der Waffel kauft, setzt sich auf die Bank vor der Eibenhecke. Aber es sind sehr wenige.
»Im Sommer habe ich oft Leute dort gesehen, junge und alte«, sagt Stefan Sudmann, der Leiter des örtlichen Stadtarchivs. Etliche hätten lange dagesessen und sich immer wieder nach hinten gelehnt, um ein weiteres Stück zu hören. Sudmann ist derjenige in Dülmen, der Dischereits Textsplitter am besten versteht. Die Künstlerin hat etliche Dokumente aus seinem Archiv in die Installation einfließen lassen. Manchmal in der Mittagspause setzt sich der schmale Mann mit den kurz geschorenen Haaren auf die Bank und »benutzt« das Kunstwerk. Wenn dann zufällig lauter knappe Textstücke aufeinanderfolgen, muss sich der 36-Jährige wieder und wieder nach hinten lehnen. Beinahe sieht es so aus, als würde er im Gebet schockeln.
Ein paar Meter neben den Bänken erklärt ein kleines Schild den Namen des Platzes: »benannt nach den Gebrüdern Eichengrün … stellvertretend für das aktive wirtschaftliche Wirken jüdischer Geschäfte in Dülmen, die Opfer des Pogroms am 9. November 1938 wurden«.
Esther Dischereit ist unglücklich über dieses Schild. Denn das Konzept, mit dem sie sich auf die Ausschreibung der Stadt beworben hatte, sah keine Erklärung vor. Das Kunstwerk solle sich den Menschen im Laufe der Zeit selbst erschließen, sagt sie. »Ich möchte mich nicht an einem Erziehungsprojekt beteiligen.« Wer etwas hören will, kann kommen, wer nicht, möge es sein lassen.
Über die Frage, wie der Platz heißen soll, an dem heute die Klanginstallation zu hören ist, haben die Dülmener monatelang gestritten. Durchgesetzt hat sich die Meinung, ihn nach Hermann und Sally Eichengrün zu benennen. Die beiden Brüder führten eines der größten Geschäfte in der Stadt: »Konfektion, Manufaktur, Betten« stand über der Ladentür. Ein halbes Jahr nach der Pogromnacht 1938 emigrierten die Eichengrüns nach Südamerika.
Wäre es nach dem örtlichen Heimatverein gegangen, hätte man den Platz vor der Klanginstallation »Schalom-Platz« genannt. Doch den Grünen im Stadtrat klang es zu sehr nach »Friede, Freude, Eierkuchen«. Sie wollten das Kind beim Namen nennen und plädierten für »Jüdischer Platz«. Dies wiederum fanden andere »zu plakativ« und »nicht zeitgemäß«.
Einige Leserbriefschreiber der örtlichen Dülmener Zeitung bekamen Bauchschmerzen bei dem Gedanken, allein die Wirtschaftskraft als Maß zu nehmen: Das Kaufhaus Eichengrün hätte zwar eine größere Bedeutung in der Stadt als die meisten anderen jüdischen Geschäfte. Aber was sei mit den armen Schluckern, den kleinen jüdischen Hausierern? Sind sie es nicht wert, dass man ihrer gedenkt? Den Eichengrüns gelang es zu emigrieren, andere wurden ermordet. Und: Warum den Platz eigentlich nicht nach den Salomons benennen? Die betrieben doch genau dort einen Metzgerladen. Einige Zeit nach der Pogromnacht seien sie »plötzlich nicht mehr da gewesen«, erzählen alte Dülmener noch heute.
Einmal täglich hört jeder, der sich gerade auf dem Eichengrün-Platz aufhält, ein Klangstück von Esther Dischereit. Es ertönt aus einem grauen Lautsprecher oben an einem Laternenmast. Die genaue Zeit weiß niemand. Und auch hier regelt ein Zufallsgenerator, was gespielt wird. Doch sind es keine Fragmente aus der jüdischen Geschichte Dülmens, sondern man hört jeweils ein Rezept aus einem alten jüdischen Kochbuch: Mal sind es Hamantaschen, mal Latkes, an anderen Tagen Rahmstrudel, Charosset oder Heringshäckerle – alles vorgetragen von einer männlichen Stimme mit starkem amerikanischen Akzent. Fragt man die Künstlerin, was sie sich dabei gedacht hat, erfährt man zweierlei: Es sind Reminiszenzen an die Amerikaner, die Deutschland befreit haben. Und – die Enkelgeneration der Dülmener Juden lebt weiter. In Amerika.

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