deutsche Linke

Befreiungstheologen

von Klaus Bittermann

Ende 1971 besuchte der Philosoph und Mentor der 68er-Bewegung, Herbert Marcuse, Israel, wo er mit israelischen und arabischen Intellektuellen und Politikern sprach, darunter Amos Oz. Im Januar 1972 veröffentlichte Marcuse in der Jerusalem Post so etwas wie die Quintessenz seiner Einschätzung der Lage. Sehr pragmatisch schrieb er über mögliche Lösungen des Konflikts. Wie zum Beispiel einen Friedensvertrag mit Ägypten als erste Vorbedingung, eine befriedigende Regelung des Flüchtlingsproblems, die Kompensation des Unrechts jüdischer Landnahme, die Gründung eines Palästinenserstaates. »Es gibt ein palästinensisches Volk, das seit Jahrhunderten auf dem Territorium gelebt hat, das heute von Israel besetzt wird. Und die Mehrheit dieses Volkes lebt heute unter israelischer Verwaltung. Diese Bedingungen machen Israel zu einer Besatzungsmacht (sogar in Israel selbst) und die palästinensische Befreiungsbewegung zu einer nationalen Befreiungsbewegung –mag die Besatzungsmacht auch noch so liberal sein.«
Damit lieferte Marcuse die Stichworte für das Nahostverständnis der deutschen Linken – die ihm allerdings nicht genau zugehört hatte. Für den Philosophen war die unabdingbare Voraussetzung jeder Diskussion gewesen, »dass Israel als souveräner Staat anerkannt wird«. Doch die Studentenbewegung sah in Israel nicht mehr den souveränen Staat, den es zu verteidigen galt, sondern nur noch ein imperialistisches System.
Für den ehemals proisraelisch eingestellten Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) wurde Israel nach dem Sechstagekrieg zu einem »rassistischen«, ja sogar »politisch parasitären Staat«. Die Unterstützung und Solidarität der linken Studenten, hieß es, »kann nur dem palästinensischen Volk und seinem Widerstand und den antizionistischen Sozialisten in Israel gelten. (...) Der palästinensische Kampf ist Bestandteil des Kampfes aller unterdrückten Völker der Dritten Welt gegen den Imperialismus.« Diese Kuh war so schnell nicht mehr vom Eis zu kriegen und prägt das Denken der Linken bis in die heutige Zeit.
In ihrer Begeisterung für die Palästinenser übersah die Linke, dass beide Völker – also auch die Israelis – die gleichen territorialen Rechte in Bezug auf das Gebiet des ehemaligen Palästina in Anspruch nehmen konnten. Zwischen gleichen Rechten aber entscheidet die Gewalt. Und Israel hatte in diesem Fall die bessere Armee. Es ist unsinnig, den Israelis oder irgendeinem anderen Volk vorzuwerfen, sie hätten einen Staat gegründet auf einem Territorium, das bereits von anderen Menschen bewohnt wurde. »Die Gründungsakte aller bisherigen Gemeinwesen waren keine der Gerechtigkeit, sondern stets solche der Gewalt. Sogar der Bilderbuchfrieden idyllischer Stämme und Völker, die einträchtig und in Harmonie mit den Nachbarn das Land der Väter nach alter Sitte bestellen, ist in der Regel ein Frieden, der auf dem ursprünglichen Gewaltakt der Landnahme und Vertreibung anderer beruht«, schrieb Wolfgang Pohrt 1982 in der taz, die heute vor allem darauf achtet, mit der Hamas möglichst rücksichtsvoll umzugehen.
Indem die deutsche Linke religiöse Fundamentalisten zur »nationalen Befreiungsbewegung« veredelte, vergaß sie die Geschichte. Zwar wurde in dem Augenblick der Gründung des Staates Israel Unrecht sanktioniert – dennoch war Israel als Refugium der in der Diaspora lebenden und bedrohten Juden notwendig. Diese Aporie hatte Herbert Marcuse in einer Rede an der Freien Universität Berlin 1967 so formuliert: »Die Etablierung des Staates Israel als eines selbstständigen Staates kann als Unrecht bezeichnet werden. (...) Aber dieses Unrecht kann nicht gutgemacht werden durch ein zweites und größeres Unrecht. Der Staat ist da, und die Verständigung mit der ihm feindlichen Umwelt muss gefunden werden: Das ist die einzige Lösung.«
Ideal, so Marcuse 1972 in der Jerusalem Post, wäre »das Zusammenleben von Israelis und Palästinensern, Juden und Arabern als gleichberechtigten Bürgern eines sozialistischen nahöstlichen Staatenbundes«, wobei er realistischerweise anfügte, das sei »noch Utopie«. Diese Utopie war damals unter Intellektuellen weit verbreitet und mit der Überzeugung verbunden, dass bessere Zeiten und damit auch Frieden in der Region möglich seien.
Heute hat die junge Generation in Israel diese Hoffnung aufgegeben, schreibt der Historiker Tom Segev. An ihre Stelle ist die nationale Identität getreten, beide Seiten – Israelis und Palästinenser – definieren sich über das Land und empfinden jeden territorialen Kompromiss als Aufgabe ihrer Identität. Der irakische Autor Najem Wali beschreibt in seinem neuen Buch über eine Reise durch Israel den Zustand folgendermaßen: »Hier wird die Rede über historische Ansprüche und Vorrechte zu einem Geschwätz, das Angst, Misstrauen und Zweifel noch untermauert, die in den befeindeten Gesellschaften vorherrschen. Das Gerede von den historischen Vorrechten führt zu nichts, schon gar nicht in die Zukunft, weil sie die Gegenwart an ihrem Ort zunichte macht und einmal mehr in die weit zurückliegende Vergangenheit zurückkehrt.«
Marcuse hatte noch gehofft, den Konflikt durch die Kraft der Einsicht und Vernunft auflösen zu können. Die aber hatte in religiös und politisch aufgeheizten Situationen noch nie eine große Chance. Durch den religiös begründeten Anspruch auf einen Flecken Land, wie ihn sowohl die Hamas als auch jüdische Siedlergruppen formulieren, wird der Konflikt noch irrationaler und entfernt sich immer mehr von einer vernünftigen und pragmatischen Lösung.
Diese Lösung, ein friedliches Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen, ist nicht in der Nationalstaatsidee zu finden. Mit den Begriffen Nation und Volk zwingend verbunden ist die Unterscheidung zwischen sich selbst und dem Fremden, der nicht der eigenen Nation angehört, und damit das Recht auf Vertreibung. Daran wird sich nichts ändern, solange Israel in seiner Existenz bedroht ist. Erst wenn die Souveränität des Staates Israel anerkannt wird, ließe sich wirklich der Umgang Israels mit seinen Minderheiten beurteilen. Dann aber sollte ein Maßstab der Vergleich mit anderen Staaten sein, in denen häufig schon eine fiktive Bedrohung ausreichte, um Minderheiten auszurotten. Daran gemessen hat Israel Langmut und eine erstaunliche Toleranz bewiesen. Und auch, wenn an die von Marcuse beschriebene Utopie niemand mehr glauben will, ist das schon mal mehr, als die arabischen Staaten hinkriegen werden.

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