Prag

Aus dem Nichts

von Kilian Kirchgessner

Nach bürgerlicher Idylle sieht es auf den ersten Blick aus, das Haus im noblen Prager Stadtviertel Vinohrady gleich oberhalb vom Wenzelsplatz. In dem prächtigen Gründerzeitbau sind Wohnungen untergebracht – und der Gebetsraum des liberalen jüdischen Verbands Bejt Simcha. Er liegt im Keller des Hauses, es ist ein bescheidenes Zimmer mit Backsteinwänden und Gewölbedecke. Hier ist eines der wichtigsten Zentren des liberalen Judentums in Prag; jener Strömung, die in der tschechischen Hauptstadt einst so bedeutsam war und sich heute erst wieder neu organisieren muss.
Dass die Wiederbelebung der liberalen Tradition keine einfache Aufgabe ist, weiß niemand so gut wie Sylvie Wittmannová. Sie hat schon in den 80er-Jahren versucht, trotz politischer Hindernisse die liberalen Juden wieder zu versammeln und dann kurz nach der politischen Wende Bejt Simcha mitbegründet. »Die alten, gewachsenen Strukturen sind über die Jahrzehnte völlig verloren gegangen«, sagt sie. Und so ist die Lage in Prag heute denkbar unübersichtlich: Die jüdische Gemeinde selbst ist orthodox dominiert – und die Anhänger der liberalen Strömung sind wegen langer Strei- tigkeiten in mehreren konkurrierenden Gruppierungen organisiert. Neben Bejt Simcha ist die Liberale Jüdische Union die einflussreichste Gruppe. Gemeinsam zählen sie gut 300 Mitglieder.
Einmal im Monat allerdings sitzen sie alle zusammen zum Gebet. Das geschieht immer dann, wenn sich Besuch aus Deutschland ansagt: Tomas Kucera, Rabbiner der Liberalen Gemeinde Beth Shalom in München und gebürtiger Tscheche, reist seit mehr als einem Jahr regelmäßig nach Prag. Er will geistlicher Ansprechpartner sein für die liberalen Juden – und er will die zerstrittenen Parteien in Prag vereinen. »Mein großer Vorteil ist, dass ich von außen komme. Ich habe die Auseinandersetzungen in den vergangenen Jahren zwar verfolgt, war aber selbst nicht beteiligt«, sagt Kucera. Für ihn ist das Prager Engagement eine Herzensangelegenheit. »Als ich in Deutschland mein Rabbinatsstudium begann, stand für mich fest, dass ich nach der Ausbildung in Tschechien arbeiten möchte«, sagt Kucera. Aber dann habe ihn Deutschland mehr und mehr in Anspruch genommen. Zumindest einmal pro Monat reist er jetzt aus München an. Er kümmert sich um die Gemeinden in den nordböhmischen Städten Decin und Liberec, die sich dem Reformjudentum angeschlossen haben – und um die liberalen Prager Vereine. In Kuceras Gottesdiensten treten die Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Verbänden in den Hintergrund.
Ohnehin lässt es sich heute nur noch schwer rekonstruieren, wann es in Prag eigentlich zu den Rivalitäten unter den Gruppierungen kam. Auch das Motiv, das ursprünglich dahinterstand, ist nur schwer verständlich. Feststeht: Die Konfliktlinien verlaufen nicht so wie anderswo zwischen unterschiedlichen religiösen Flügeln, sondern vielmehr zwischen einzelnen Personen. Offen aufgebrochen ist der schwelende Streit vor gut zwei Jahren, als in der Prager Gemeinde die Vorstandswahlen anstanden. Damals teilten sich die Gemeindemitglieder in zwei Lager – die einen unterstützten den kurz zuvor abgesetzten Vorsitzenden Tomas Jelinek, dem der mutmaßliche Verkauf von persönlichen Daten der Gemeindemitglieder vorgeworfen wurde, die anderen wollten lieber dem kommissarisch eingesetzten Frantisek Banyai das Vorstandsmandat erteilen. Es gewann Banyai, der sich umgehend für eine Versöhnung innerhalb der Gemeinde aussprach. Die Konflikte allerdings schwelen bis heute. Auch am orthodoxen Oberrabbiner Karel Sidon entzündet sich regelmäßig der Streit, weil einige liberale Gemeindemitglieder seinen Posten lieber anders besetzen würden. An solchen Personalfragen scheiterten bislang alle Versuche, die liberalen Strömungen zu vereinen.
Früher war das anders. Tschechien war über lange Zeit hinweg eine Hochburg des liberalen Judentums in Europa, und Prag war das glanzvolle Zentrum. In den prächtigen Synagogen, die über die Altstadt verteilt sind, hielten die Liberalen ihre Gottesdienste. Die Orthodoxen fanden ihren Platz in der Altneuschul, der berühmten Synagoge im jüdischen Viertel. Während der kommunistischen Herrschaft aber verschoben sich die Verhältnisse: Der Staat unterstützte vor allem die orthodoxen Gruppierungen, um seine vermeintliche Toleranz gegenüber den Religionsgemeinschaften demonstrativ zur Schau zu stellen. »Die Liberalen konnten sich in dieser Zeit nicht organisieren und mussten sich dann nach der Wende erst wieder zusammenfinden«, sagt Sylvie Wittmannová vom Verband Bejt Simcha.
Der harte Kern der orthodoxen Juden in der Prager Gemeinde wird heute auf etwa 70 Männer und Frauen geschätzt. Er ist damit deutlich kleiner als jener der Liberalen. Dass trotzdem der orthodoxe Karel Sidon als Oberrabbiner im Amt ist, gilt als politische Entscheidung: Er war in der kommunistischen Zeit Dissident und trat aktiv gegen das Regime auf – das verschafft dem integren Mann eine große Glaubwürdigkeit.
Eine eigenständige liberale Gemeinde gibt es in Prag indes nicht. Die Verbände wie Bejt Simcha und die Liberale Jüdische Union fungieren zwar faktisch wie eine Gemeinde, allerdings haben sie nicht den rechtlichen Status. Das liegt an der tschechischen Gesetzeslage: Als religiöse Gemeinde werden nur Gruppen anerkannt, die mindestens 300 Mitglieder zählen – und selbst dann sieht das Prozedere eine zehn Jahre lange Wartezeit auf die juristische Anerkennung vor, um die Ernsthaftigkeit der Absichten zu dokumentieren. Viele liberale Juden in Prag sind deshalb heute Mitglieder in der orthodox geprägten Gemeinde und unterstützten gleichzeitig entweder die Liberale Jüdische Union oder Bejt Simcha. »Eine eigene jüdische Gemeinde zu gründen, halte ich nicht für sinnvoll«, sagt der Münchner Rabbiner Tomas Kucera. »Das wäre eine spalterische Idee. Viel besser ist es, in einer bestehenden Organisation die anderen von seinen Vorstellungen zu überzeugen.«
Deshalb ist Kucera auch optimistisch, dass er die verschiedenen liberalen Gruppen in Prag vereinen kann. Eine wichtige Voraussetzung immerhin ist schon erfüllt: Sowohl Bejt Simcha als auch die Liberale Jüdische Union gehören zur landesweiten Föderation der Jüdischen Gemeinden, einer Art tschechischem Zentralrat. »Die Föderation könnte eine gute Plattform sein, um die verschiedenen Parteien zusammenzubringen«, hofft Kucera. Geplant ist derzeit, dass die Föderation ihn schon bald bei seinen regelmäßigen Reisen nach Prag offiziell unterstützt. Das, sagt Kucera, wäre eine wichtige symbolische Geste – und vielleicht der Beginn einer Renaissance des liberalen Judentums in Prag.

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