Rosa Rein

Alt wie ein Baum

von Peter Bollag

In Deutschland stirbt Sebastian Kneipp, die USA annektieren Hawaii, und in Basel versammelt Theodor Herzl die Delegierten zum Ersten Zionistenkongress. Ereignisse, an die sich Rosa Rein, geborene Karliner, zwar nicht erinnern kann, die sich aber in ihrem Geburtsjahr 1897 abgespielt haben.
Ihr Geburtdatum macht sie nicht nur zur ältesten Frau der Schweiz, sondern vielleicht sogar zu einer der ältesten von ganz Europa – genau weiß das keiner. Fest steht, die heute 111-Jährige hat in drei verschiedenen Jahrhunderten gelebt. Doch dies scheint der kleinen Frau, die nach einem Sturz vor einigen Jahren aus ihrem Haus in ein Altenheim in Lugano zog, herzlich egal zu sein.
Ihr aufregendes Leben, das sie von Oberschlesien im heutigen Polen nach Brasilien und wieder zurück nach Europa führte, hat sie fest in ihrem Kopf gespeichert und gibt dem Besucher einzelne Stücke daraus preis. Doch dieser darf nicht versuchen, chronologisch mit ihr die 111 Jahre durchzugehen. Auch wenn sie gleich zu Beginn der Begegnung ihren Zeigefinger hebt und betont: »Ich habe noch immer ein sehr gutes Gedächtnis!«
Lange verweilt Rosa Rein, die zweimal verheiratet war und keine Nachkommen hat, mit dem Besucher bei ihrer Jugend in Myslowitz. Dort besuchte sie die Schule, ihre Familie war orthodox. Rosa Rein hatte drei Geschwister, die Familie wohnte zunächst auf dem Lande, betrieb dort einen landwirtschaftlichen Betrieb. Die alte Dame erinnert sich, dass ihr Vater sie bei seinen zahlreichen Besuchen zu den Wunderrabbis des Landes gern mitgenommen habe: »Ich musste allerdings auf der Schwelle zurückbleiben und durfte nicht mit hinein.« Die Familie war weltläufig, die junge Rosa oder Rachel, wie sie auch genannt wurde, sprach mit ihrer Mutter Französisch und reiste schon als junge Frau nach Italien. »Ich schrieb meinem Vater aus jeder Stadt, wo wir Station machten, ausführliche Reiseberichte nach Hause.«
Als eine der ersten Frauen der Gegend durfte Rosa Rein die Universität besuchen, in Berlin. Dorthin fuhr die Familie gelegentlich, um ins Theater oder in die Oper zu gehen. Später, nach dem Ersten Weltkrieg, zog die Familie in die Hauptstadt, denn die Deutschsprachigen waren im nun polnisch gewordenen Oberschlesien nicht mehr gerne gelitten. An Berlin hat Rosa Rein eher schlechte Erinnerungen: Nach dem Machtantritt Hitlers folgte die Reichspogromnacht, kurz darauf emigrierte Rosa Rein nach Brasilien. Ihr erster Ehemann war zuvor verstorben. In Südamerika, wo sie zeitweise in großer Armut leben musste, lernte sie ihren zweiten Ehemann kennen. Mit ihm betrieb sie eine »Schuhbesohlanstalt«, wie sie es nennt. Als er 1964 erkrankt, beschließt das Ehepaar, sich im Tessin, das sie von mehreren Urlaubsaufenthalten kennen, mit seinem gemäßigt mediterranen Klima niederzulassen. 1973 stirbt ihr zweiter Ehemann.
Bis Rosa Rein mit 104 Jahren stürzt und ins Altenheim zieht, lebt sie weiter in der gemeinsamen Wohnung. Von dort hat sie vieles mitgenommen in ihr jetziges Domizil: Fotos, Bilder und Kultgegenstände. Vor allem aber Erinnerungen. Und die kramt sie nach und nach hervor, in immer dichterer Folge: Wie die Familie den Schabbat hielt und deshalb oft weite Wege zur Synagoge zu Fuß ging, am Freitag jeweils Zwischenverpflegung auf dem Weg deponierte – die dann von den Schaf- und Rinderhirten der Gegend gestohlen wurde, als jene davon Wind bekamen. Oder wie ihre Brüder – sie nennt sie in ihrem schlesischen Idiom »Briederchen« – aus der Jeschiwa nach Hause telegrafierten und um Geld baten.
Unter diesen Ereignissen verblasst die Gegenwart. Dass es Rosa Rein in die Top-100-Liste der berühmtesten Schweizerinnen und Schweizer geschafft hat, nimmt die alte Dame mit wegwerfender Handbewegung allenfalls beiläufig zur Kenntnis. Reisepläne schmiedet die 111-Jährige allerdings auch heute noch, wenn auch nur theoretische: »Nach London oder Paris möchte ich gerne noch mal fahren, dort gibt es ein so reichhaltiges jüdisches Leben«, sagt sie. »Und auch nach Israel.« Da hat sie Verwandte, leben wollte sie dort aber nie.
Nach gut zwei Stunden verabschiedet sich der Besucher. Das ist auch der Moment, in dem die älteste Frau des Landes zum ersten Mal etwas Flüssigkeit zu sich nimmt, so sehr war sie auf das Gespräch konzentriert. Auf den sonst in einem solchen Fall üblichen Wunsch »Bis 120« verzichtet der Gast – will er doch Rosa Rein nicht brüskieren.

Berlin

Bundesamt entscheidet wieder über Asylanträge aus Gaza

Seit Anfang 2024 hatte das BAMF nicht mehr über Asylanträge aus Gaza entschieden. Nun wurde der Bearbeitungsstopp laut Innenministerium aufgehoben

 18.07.2025

Syrien

Netanjahu will keine Regierungstruppen südlich von Damaskus

Nach Berichten über Massaker gegen die drusische Minderheit hat Israel eingegriffen

 17.07.2025

Bonn

Schoa-Überlebende und Cellistin Anita Lasker-Wallfisch wird 100

Sie war die »Cellistin von Auschwitz« - und später eine engagierte Zeitzeugin, die etwa vor Schülern über ihre Erlebnisse unter dem NS-Regime sprach. Jetzt feiert sie einen besonderen Geburtstag

von Leticia Witte  15.07.2025

Israel

Eli Sharabis Bestseller bald auch auf Englisch

Zum zweiten Jahrestag des Hamas-Massakers vom 7. Oktober 2023 soll das Buch der ehemaligen Geisel veröffentlicht werden

von Sabine Brandes  10.07.2025

Genf

Türk verurteilt US-Sanktionen gegen Albanese

Der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Volker Türk, sprach von »Angriffen« und »Drohungen« gegen die umstrittene Italienerin

 10.07.2025

Der unter liberianischer Flagge fahrende Massengutfrachter "Eternity C" beim Untergang im Roten Meer am Mittwoch, den 9. Juli 2025.

Terror auf See

Tote nach Huthi-Angriff auf Handelsschiff

Die Huthi-Miliz im Jemen versenkt innerhalb von 24 Stunden zwei Schiffe auf dem Roten Meer

von Nicole Dreyfus  10.07.2025

Wien

Vor Treffen mit Sa’ar: Wadephul ermahnt Israel

Der Bundesaußenminister will sich weiter für einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln einsetzen, verlangt aber bessere humanitäre Hilfe in Gaza

 10.07.2025

Gaza

Das Dilemma des Deals

Premier Benjamin Netanjahu hat das Weiße Haus ohne ein Freilassungsabkommen für die israelischen Geiseln verlassen. Die Verhandlungen gehen weiter

von Sabine Brandes  09.07.2025

Berlin

Bundestagspräsidentin will Angehörige israelischer Geiseln treffen

In dieser Woche sind Angehörige der von der Hamas verschleppten Geiseln in Berlin. Am Dienstag kommt Bundestagspräsidentin Klöckner mit ihnen zusammen. Sie formuliert im Vorfeld klare Erwartungen

 07.07.2025