Zwangsarbeit

1.000 Euro für fünf Jahre

von Gabriele Lesser

Das Meer hinter dem Hügel. War es ein Traum? Oder doch eine schon fast vergessene Kindheitserinnerung? Existierten das Meer, die große Eiche und das Schloss mit den beiden Löwen auf der Freitreppe? Schließlich der Mann in Uniform, der jeden Morgen mit einer schwarzen Limousine zur Arbeit fuhr – wer war das? Als Marian 1945 mit seinen Eltern Stefan und Franciszka von der Zwangsarbeit im Deutschen Reich nach Polen zurückkehrte, war er zehn Jahre alt. An die drei älteren Brüder, die in Polen geblieben waren, erinnerte er sich kaum noch. Den ältesten sollte er nicht mehr wiedersehen. Polnische Kommunisten erschossen ihn vor den Augen der Mutter auf der Türschwelle des Elternhauses. Nicht einmal umarmen konnten sie sich noch.
»Wir sind damals umgezogen«, erzählt der heute 67-Jährige. »Das war schwer, denn meine Eltern waren Bauern. Da zieht man nicht so einfach um.« Aber in ihrem Haus in Kuznica Kaszewska bei Lódz konnten sie nicht bleiben. Zu unerträglich waren die Erinnerungen. »Vielleicht haben meine Eltern damals alle Papiere aus Deutschland vernichtet? Aus Angst vor den Kommunisten?« Marian Siewiera streicht sich nachdenklich über den fast kahlen Kopf. Er weiß es nicht. »Wir haben fast nie mehr über die Zwangsarbeit der Eltern in Schwarzenhof gesprochen.«
Als Ende der 1990er-Jahre die Zeitungen in Polen berichteten, dass die in Deutschland geplante Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« auch ehemaligen polnischen Zwangsarbeitern und ihren Kindern eine zumindest symbolische Entschädigung auszahlen würde, winkte Siewiera zunächst ab. Der gelernte Elektriker hatte weder Dokumente, mit denen er die Zwangsarbeit der Eltern dokumentieren konnte, noch genaue Erinnerungen. Er wusste nicht einmal, wo dieses »Szwarcenchow«, wie die Eltern sagten, überhaupt lag. Irgendwo im Norden, dachte er sich. Am Meer. Zwar hatte er als Kind das Meer hinter dem Hügel nie gesehen, doch wenn es neblig war, hörte man das langgezogene Tuten der Hochseedampfer.
Erst als Bekannte im Internet mehrere Schwarzenhofs finden, darunter auch zwei an großen Seen und Kanälen in Mecklenburg, erwacht Siewieras Interesse an der eigenen Kindheit erneut. Er entschließt sich, doch einen Brief an die Stiftung Deutsch-Polnische Aussöhnung zu schreiben, die Warschauer Partnerorganisation der deutschen Stiftung. Wenn er auch keine Entschädigung bekommen würde, so seine Überlegung, könnte sie ihm vielleicht helfen, mehr über jene fünf Jahre zu erfahren, die er und seine Eltern im Deutschen Reich verloren hatten.
August 2000: Marian Siewiera holt Kanzleipapier aus dem Schrank und schreibt an die Stiftung: »Vater, Mutter und ich wurden 1939 nach Lódz gebracht und von dort gemeinsam in Güterwaggons nach Deutschland deportiert. Aus unserem Dorf wurden auch die Mielczareks abtransportiert – ich erinnere mich nur noch an die Namen der Kinder – Krystyna und Józef. In Schwarzenhof haben unsere Eltern bis zum Frühjahr 1945 auf einem landwirtschaftlichen Gut gearbeitet. Wo dieser Ort genau liegt, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich am Meer oder an einem Fluss, denn von Zeit zu Zeit waren Nebelhörner und das lang gezogene Tuten von Hochseedampfern zu hören. Das Meer allerdings habe ich nie gesehen. Wir durften den Ort ja nicht verlassen. Ich erinnere mich, dass der Gutsherr ein Offizier war, der Uniform trug und jeden Tag mit einer schwarzen Limousine zur Arbeit fuhr. Es gab dort ein schönes Schloss und einen großen Garten. In dem Dorf, das zum Gut gehörte, befand sich auch ein Kriegsgefangenenlager. Dort waren wahrscheinlich Russen, Franzosen und Italiener. Sie gaben uns Kindern manchmal Bonbons und Schokolade.«
Als Siewiera den Brief beendet, rast sein Puls. Er greift zu den Herztabletten und legt sich für einen Moment hin. »Warum tue ich das überhaupt?«, fragt er sich. »Soll ich die Vergangenheit nicht besser ruhen lassen?« Doch er schickt den Brief an die Stiftung ab. Weitere Schreiben gehen an das Rote Kreuz, den Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen sowie Archive in Warschau und Lódz, alle gleichlautend: »Gibt es in Ihrem Archiv Doku- mente über die Deportation und Zwangsarbeit meiner Eltern im Deutschen Reich?« Die Antwortbriefe kommen schnell. Einer so enttäuschend wie der andere. Nirgends eine Spur. Die Warschauer Stiftung fügt eine Liste weiterer Archivadressen in Deutschland an. Ohne Dokumente ist seine Erinnerung nichts wert.
Siewiera schreibt ein weiteres Dutzend Briefe. Monate vergehen. »Es tut uns leid …«, »Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen …«, »Leider konnten wir keine Akten zu Ihrem Fall finden.« Die Antworten ähneln sich, die Enttäuschung wächst. Endlich, im Juni, kommt ein anders lautender Brief. Siewiera fasst neue Hoffnung. Das Archiv in Schwerin hatte seine Anfrage nach Waren in Mecklenburg weitergeleitet, da es dort ein Dorf namens Schwarzenhof gibt, direkt am Müritzsee gelegen. Heike Severin vom Landratsamt Waren schrieb, dass es auch in ihrem Archiv keine Dokumente gebe, sie aber vor Ort weitersuchen könne. Allerdings brauche sie weitere Angaben. Vielleicht erinnere er sich ja an Namen, an irgendwelche Details? Sie schickt ein paar Fotos mit, auf denen auch das alte Gutshaus zu sehen ist. »Als die Bilder in Krakau ankamen, musste ich mich erst einmal hinsetzen«, erzählt Siewiera im Cafe Stylowa im Krakauer Stadtteil Nowa Huta. »Ich habe die Hand aufs Herz gehalten, damit es nicht zerspringt. Dann kamen plötzlich Bilder und Erinnerungen hoch, von denen ich dachte, dass sie längst vergessen wären.« Doch an Namen erinnert er sich nicht mehr. Er war ja erst fünf Jahre alt, als er mit den Eltern deportiert wurde. Weitere Details? »Zwei Jagdhunde rannten hinter der Limousine her. Der Weg zum Schloss war schnurgerade. Zwei steinerne Löwen auf der Freitreppe des Schlosses.« Das ist alles. Zu wenig für Heike Severin. Sie weiß zwar, dass sich der Pole die Geschichte nicht ausgedacht hat, aber sie kann nicht mehr weiterhelfen. Zu wenig auch für die Stiftung in Warschau. Ohne Dokumente sei nichts zu machen. Nur Erinnerungen reichen nicht.
So kurz vor dem Ziel zu scheitern, ist bitter. Siewiera ist enttäuscht. Er hatte nun doch auf das Geld von der Stiftung gehofft. Damit wollte er noch einmal nach Schwarzenhof fahren. Als Kind von Zwangsarbeitern hatte er keine große Summe zu erwarten, gerade mal 2.000 DM, also 1.000 Euro. Wie lange seine Eltern im Deutschen Reich gearbeitet hatten, spielte dabei keine Rolle. 1.000 Euro für fünf Jahre verlorenes Leben war nicht mehr als eine symbolische Anerkennung. Aber selbst diese sollte ihm nun versagt bleiben. Dabei ging es ihm gar nicht ums Geld. Auf die Reise in die Vergangenheit wollte er seine Kinder und Enkel mitnehmen. Von seiner kargen Rente als Elektriker konnte er sich diesen Traum aber nicht erfüllen.
Sein ganzes Leben lang hatte er in der Lenin-Hütte im Krakauer Stadtteil Nowa Huta gearbeitet. Von der sozialistischen Musterstadt, die dort entstehen sollte, hielten die Arbeiter aber nichts. Statt in ihrer Freizeit an Partei-Versammlungen teilzunehmen, bauten sie lieber Kirchen, darunter auch die größte und bis heute berühmteste: die Solidarnosc-Kirche, die »Arche des Herrn«. Der Elektriker und gläubige Katholik Marian Siewiera war fast überall dabei. Denn wann immer die größer werdende Familie in eine neue Wohnung umzog, bauten die Arbeiter dort gerade eine neue Kirche. Auch heute noch packt Siewiera am Sonntag gerne Kind und Kegel ins Auto und fährt zu »seinen« Kirchen, die verteilt über ganz Nowa Huta liegen, die Trabantenstadt am Rande Krakaus.
Dass sein Traum doch noch in Erfüllung geht, hat mit einer Reportage über »Marian S.« in der auflagenstärksten Zeitung Polens, der Gazeta Wyborcza, und einigen deutschen Zeitungen zu tun. »Als ich den Artikel in der Märkischen Allgemeinen Zeitung las, hätte ich mich ums Haar ins Auto gesetzt und wäre sofort nach Krakau gefahren, um das Zwangsarbeiterkind nach Mecklenburg zu holen«, sagt der Polizist Oswin Werner aus Oranienburg und lacht dabei. »Da muss man doch helfen in so einem Fall«, stimmt die Bibliothekarin Nora Ilgenstein aus Brandenburg zu. Und Peter Kretschmar, Landwirt aus Blumenow, nickt nur noch dazu. Alle drei hatten spontan und ohne voneinander zu wissen, Marian Siewiera nach Schwarzenhof eingeladen. Auch Heike Severin vom Landratsamt Waren schließt sich den dreien an. Schließlich sponsert die Märkische Allgemeine auch noch einen Bus für die ganze Reise.
Oktober 2002. Marian Siewiera steht mit Tochter Marta und Enkel Krzystof am Müritzsee in Mecklenburg. Der scharfe Wind weht ihnen erste Schneeflocken ins Gesicht. »Das Meer hinter dem Hügel!«, ruft der alte Mann gegen den Wind an und schließt die Augen. Wasser rinnt über sein Gesicht. Oder sind es Tränen? Krzystof drückt seine Hand. »Wenn Nebel wäre«, ruft sein Großvater heiser, »würden wir jetzt ein Nebelhorn hören. So wie früher.« Das Gutshaus steht nicht mehr. Dort wachsen ein paar Fichten. Im Gras sind noch die Fundamente zu sehen. »Es ist schon kurz nach dem Krieg abgebrannt«, erzählt die Wirtin im Hotel Kranichrast. »Wahrscheinlich Brandstiftung.« Auch von den beiden Holzhäuschen, in denen die Zwangsarbeiterfamilien wohnten, keine Spur mehr. Nur das Jagdschlösschen steht noch. Allerdings im Nachbarort Speck. Siewiera will unbedingt die Löwen auf der Freitreppe sehen. Dann steht er verwirrt vor einem großen, in Stein gehauenen Wildschwein, dem ein Jäger einen Speer ins aufgerissene Maul rammt. Hilfesuchend dreht er sich um: »Keine Löwen? Wo sind die Löwen?« Niemand kann weiterhelfen. Wenig später trifft die kleine Gruppe eine junge Frau in der kleinen Dorfkirche: »Doch, doch«, beruhigt sie Siewiera, »die Löwen gibt es noch. Aber sie stehen jetzt drinnen.«
Monate später, lange nach seiner Rückkehr nach Krakau, händigt ihm der Postbote ein Einschreiben der Warschauer Stiftung aus. Obwohl Marian Siewiera die erforderlichen Dokumente nicht beibringen kann, zahlt man ihm die symbolische Entschädigung in Höhe von 1.000 Euro aus. Die Dokumentation seiner Suche, die Artikel in den Zeitungen, die Reise auf Einladung von Mecklenburgern nach Schwarzenhof haben die Stiftung überzeugt: »Die Geschichte ist glaubwürdig.«

Den Artikel entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung des Wallstein Verlags dem Abschlussbericht der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«. Er erscheint im Juni unter dem Titel »Gemeinsame Verantwortung und moralische Pflicht«.

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