Radio Judaïca

Was ins Ohr geht

Immer dienstags geht es hoch her im kleinen Hörfunkstudio von Radio Judaïca. Dann erfolgen die Aufnahmen für die Kultursendung Il est temps de chasser l’ennui, was auf Deutsch in etwa bedeutet: Wird Zeit, die Langeweile zu vertreiben. Sechs gestandene Kritiker sprechen über Theater, Kino und vor allem über Musik. Heute ist der in Straßburg lebende bretonische Sänger und Songwriter Petseleh im Programm, der seine neuesten Lieder vorspielt – live.

Überhaupt: die Musik auf Radio Judaïca. Samstags, am Schabbat, läuft nur Musik vom Band über den jüdischen Sender, und allein die Auswahl ist schon ein gewichtiger Teil seiner Botschaft. Denn es gibt keine Grenzen: Ungewöhnliches aus Rock, Pop, Jazz und ab und zu etwas Neues aus der israelischen Musikszene, die mit ihren Anklängen an türkische und arabische Einflüsse eine eigene Welt entstehen lässt. Und das alles ohne eine einzige nervige Werbeunterbrechung – wo sonst kann man so etwas hören?

In Straßburg und Umgebung jedenfalls auf UKW 102,9. An den anderen Tagen wird ein echtes Vollprogramm aus dem Studio im Untergeschoss der Großen Synagoge gesendet, das thematisch so weit gefächert ist wie das lokale Leben selbst. »Am Schabbat haben wir eine etwas andere Hörerschaft als an den anderen Tagen«, bestätigt auch Sybille Zaktreger, die Chefredakteurin.

Doch das ändert nichts an der Ausrichtung des Senders. »Wir machen kein jüdisches Radio nur für Juden. Wir sind ein jüdisches Radio für alle Menschen, die etwas über ihre Stadt erfahren wollen« – und dies seit mehr als 30 Jahren.

aufklärung Begonnen hat alles an einem Strand im Fernen Osten. Der Student Thierry Roos kam im Urlaub auf die Idee, in Frankreichs Osten einen jüdischen Radiosender zu gründen. Zusammen mit einigen Freunden nutzte er die damals neue Möglichkeit, dass Vereine mit Unterstützung des Kulturministeriums eine Frequenz für lokale Bürgerradios erhalten können. Die Absicht der jungen Männer war es, über das Judentum und den Sinn der religiösen Feste aufzuklären. »Antisemitismus speist sich vornehmlich aus Unkenntnis«, sagte Thierry Roos kürzlich in einem Interview. »Es geht um die Entmystifizierung des Judentums.«

Das beste Vehikel für Aufklärung ist Kultur. Nicht umsonst heißt der Träger des Senders »Verein zur Verbreitung jüdischer Kultur«. Anfangs war die Arbeit noch ziemlich unstrukturiert, ein Sponti-Radio, wie es damals etliche gab. 1987 erfolgte dann die Aufnahme in die Association des radios juives, den französischen Verband jüdischer Radiosender, womit zunächst der Schritt zu einem eher konfessionell ausgerichteten Programm getan war.

Dabei blieb es nicht. »Am Anfang lag der Anteil der Sendungen über das Judentum wesentlich höher, heute sind sie in der Minderzahl«, sagt Sybille Zaktreger. »Das ändert aber nichts daran, dass wir ein jüdischer Sender sind: Radio Judaïca ist ein jüdischer Kultursender, aber keine Welle zur Verbreitung des jüdischen Kultus.«

Diese Unterscheidung ist sehr wichtig, denn dabei geht es ums Geld. Ein Teil des Jahresbudgets von 150.000 Euro kommt aus einem nationalen Fonds, der Bürgerradios unterstützt. Weiteres Geld geben das jüdische Konsistorium im Dé­partement Bas-Rhin, der jüdische Sozialfonds und einige Partnerschaften mit Gemeinden. Außerdem fließen Spenden von Hörern. Den höchsten Anteil trägt das Kulturministerium, und das stellt Forderungen: Finanziert werden nur lokale Kultursender – und jedes Jahr wirds aufs Neue geprüft, ob diese Bedingung noch erfüllt ist.

frequenz Was ist außerdem jüdisch an Radio Judaïca? 24 Stunden Programm an sieben Tagen die Woche, doch nur an einem Tag im Jahr wird aus religiösen Gründen nicht gesendet: an Jom Kippur. Dann steht der Betrieb still. Fast zumindest, denn ein Grundrauschen bleibt. Würde man absolut nichts senden, verlöre man die Frequenz.

Jeden Freitag widmet sich das Programm religiösen Themen. Neben liturgischen Gesängen kommentiert in der Sendung Was sagt der Midrasch? ein Rabbiner den aktuellen Wochenabschnitt aus der Tora. Und wenn einmal über das Jiddische gesprochen wird, dann interessiert das zwar eher die Aschkenasen und weniger die Sefarden, doch trotzdem gilt auch für religiöse Sendungen derselbe Grundsatz: Sie müssen sich an alle Hörer richten, Ju­den und Nichtjuden, und ihre Inhalte müssen, wie in jedem anderen Kulturprogramm, neutral vermittelt werden.

Dass Neutralität nicht Belanglosigkeit bedeutet, beweist das Programmschema von Radio Judaïca. Eingebettet in Musik und Nachrichten laufen über den Tag verteilt sehr unterschiedliche Gesprächssendungen. Montags etwa wird die lokale Musikszene beleuchtet. Am Dienstag dürfen sich in einer Talkshow drei freche Gören als »Les Grandes Girls« über Mode, Film und alles andere, was ihnen über den Weg läuft, das Maul zerreißen. Mittwochs wird Europa zum Gesprächsthema, denn immerhin versteht sich Straßburg mit dem Sitz des Parlaments, dem Europarat und dessen Gerichtshof für Menschenrechte als Hauptstadt des Kontinents.

Donnerstags führt der Historiker Jean-François Kovar die Hörer in der Sendereihe Passé Present an geschichtsträchtige Orte der Stadt. Und am Sonntag wird es lustig: Dann nämlich sitzen fünf Jugendliche – Jude, Christ, Muslim, Agnostiker und Atheist – zusammen vor dem Mikrofon und ziehen über die gegenseitig gehegten Vorurteile her. Der Name dieser Sendung ist Programm: Coexister.

»Wir wollen Brücken bauen zwischen den Gemeinschaften in der Stadt und ih­ren Menschen«, sagt Sybille Zaktreger. »Dazu muss man nicht nur ein Programm machen, das alle anspricht, es muss auch gut gemacht sein.« Dafür sorgen neben zwei Technikern und vier Redakteuren, die halbtags angestellt sind, fast 30 ehrenamtlich tätige Autoren und Moderatoren. Ohne ihre Motivation und ihre Ideen würde es keinen der speziellen Beiträge geben. »Es ist ihre Leidenschaft, die sie zu uns bringt.« Und die hauptamtlichen Mitarbeiter, wie Sybille Zaktreger, wachen darüber, dass die Umsetzung der Sendungen auch den üblichen audiofonen Qualitätsansprüchen genügt.

Philosophie Vor sieben Jahren zog Sybille Zaktreger aus familiären Gründen von Paris ins Elsass und war zunächst ehrenamtlich tätig, bevor sie vor drei Jahren vom Verein fest angestellt wurde. Seit sieben Monaten ist sie Chefredakteurin.
Als erfahrene Hörfunkfrau weiß sie, was im Radio funktioniert – und was nicht. »Radiomacher schließen einen Vertrag mit dem Hörer. Sie müssen auf ihn eingehen und Inhalte stringent präsentieren.« Und so gibt es – einzig in der elsässischen Radiolandschaft – eine Sendung auf Spanisch für die sefardische Gemeinde, aber keine über das elsässische Judentum, die dem jüdischen Sender zwar von einem Professor angeboten wurde, dessen Darstellung aber den Maßstäben des Radios nicht entsprach.

Die Hörerschaft ist die Raison d’Être des Hörfunks, umso mehr, wenn diese weit über die Zielgruppe hinausreicht. Die mehr als 50.000 Hörer, die jede Woche Radio Judaïca einschalten oder das Streaming nutzen, sind zum überwiegenden Teil keine Juden.

Die Chefredakteurin sieht drei gute Gründe, warum Nichtjuden dem Sender gewogen sind: Zum einen sei es ja kein Geheimnis, dass die Informationen über Israel in den Medien nicht sehr breit gefächert sind. Doch wird mit der Übernahme der Nachrichten von jüdischen Sendern aus Paris eine weitere Sicht vermittelt. »Ich weiß von Hörern, die uns einschalten, um sich eine Meinung über Israel zu bilden.«

Der zweite Grund ist in der Geschichte zu suchen. Nach wie vor hat im einstigen Reichsland Elsass-Lothringen das französische Laizismusgesetz von 1905 keine Gültigkeit. »Katholiken, Protestanten und Juden haben hier unter dem Konkordat immer zusammengelebt«, sagt Zaktreger. Für Elsässer sei das alte Judentum einfach »ein Teil der Geschichte und ihres kulturellen Erbes, das sie immer noch sehr interessiert«.

Doch der vielleicht wichtigste Grund ist die lokale Ausrichtung der Sendungen. Nicht nur die heimische Kulturszene, auch die Lokalpolitik wird immer wieder zum Thema. So sehr, dass die Politiker in der Eurometropole Straßburg an Radio Judaïca nicht mehr vorbeikommen.

Berührungsängste gibt es ebenso wenig wie eine parteipolitische Ausrichtung. »Wir sprechen über Fakten und vertreten keine Meinung, denn wir machen die Hörer nicht zu Geiseln unserer Überzeugungen«, betont Zaktreger. Auch das Rabbinat nehme keinen Einfluss auf die Inhalte, beteuert sie. »Wir Journalisten sind uns selbst Zensoren. Rassistische, homophobe oder vulgäre Aussagen dulden wir hier nicht.«

Sefarden In Straßburg wird die jüdische Gemeinde von sefardischen Zuwanderern aus Marokko dominiert, die sehr traditionell leben. Das elsässische Judentum ist mittlerweile in der Minderheit und die liberale Fraktion sehr klein.

»Das Profil der Gemeinde verschiebt sich weiter«, spürt Sybille Zaktreger. »Aber noch ist niemand gekommen, um uns etwa zu sagen, ihr könnt dieses oder jenes Lied aus religiösen Gründen nicht spielen. Doch sollte das jemals passieren, könnten wir nicht weitermachen.« Und das vor allem des Geldes wegen. Denn würden religiöse Richtlinien die Programmgestaltung bestimmen, verlöre man die Zuwendungen aus dem Kulturministerium.

Aber könnte ein jüdisches Radio, das viele Nichtjuden anspricht und ihnen das Judentum näherbringt, deshalb verschwinden, weil es jüdischer werden sollte? Dieses Szenario sieht die Chefredakteurin bisher nicht. Trotzdem ist der Bestand des Senders in Gefahr, denn die wichtigen Subventionen schrumpfen ohnehin. Der Staat spart, auch beim noch relativ großzügig bemessenen Kulturetat.

Die kommenden sechs Monate werden entscheiden, wie es weitergehen wird: ob weiterhin über UKW oder nur als Webradio. Irgendwie aber wird es weitergehen, ist sich Sybille Zaktreger sicher, denn wenn nicht, wäre das »eine Katastrophe« – nicht nur für die Chefredakteurin und die vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter von Radio Judaïca, sondern ebenso für seine vielen Hörer.

www.radiojudaicastrasbourg.fr

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