Lesen

Krimi, Liebe, Tour de France

Foto: Frank Albinus

Wenn die Temperatur auf dem Thermometer nach oben klettert, die Nächte lange hell sind und es nach Parkleben duftet, dann ist Sommer. Die Redaktion hat einige Lesetipps für die schönsten Tage zwischen Juli und September zusammengestellt.

Atemlos in Schweden

Inspektor Gunnar Barbarotti dealt mit Gott. Der schwedische Polizist hat ein hartes System ausgeklügelt, bei dem Gott Punkte für oder auch gegen seine Existenz gewinnen kann. Mitten in eine solche »Prüfung« platzt ein Fall. Bei einer doppelten Geburtstagsfeier der Familien Hermansson in Kymlinge, einem kleinen verschneiten Dorf in Schweden verschwinden kurz hintereinander Onkel und Neffe spurlos. Wie Barbarotti und der Leser die Hintergründe, ja Abgründe in der Familiengeschichte erfahren, hält den Leser mehr als 540 Seiten in Atem. Mal weiß der Leser mehr, mal der Inspektor. Doch die Auflösung kommt erst kurz vor Schluss. Bis dahin hat man in die Abgründe einer anscheinend ganz normalen schwedischen Familie geschaut. Und auch Gott hat schließlich mehr Plus- als Minuspunkte auf seinem Konto. Heide Sobotka

Hakan Nesser: Mensch ohne Hund. Roman. btb Verlag, München 2009, 544 S., 10 €

Radeln in Frankreich

Ganz kurz, also viel zu kurz gesagt war Albert Londres in Frankreich das, was Egon Erwin Kisch in Deutschland war: der Journalist, der mit seiner Arbeit nicht nur seine Zeit prägte, sondern bewies, dass Journalismus mitunter anderes sein kann als den Platz zwischen den Anzeigen zu füllen oder das Papier zu bedrucken, womit am Folgetag der Fisch eingewickelt wird. Londres berichtete über alles, einmal auch über die Tour de France, obwohl er von Sport keine Ahnung hatte. Genau diese Tour-Reportage aus dem Jahr 1924 hat nun ein kleiner Verlag auf Deutsch herausgebracht: Es sind grandiose Betrachtungen, die auch heute, fast 90 Jahre später, zeigen, warum die Tour de France für viele Menschen eine solche Bedeutung hat. Londres schreibt (soll heißen: lässt die Akteure sprechen) über Hoffnungen, über Erwartungen, über innere und äußere Verletzungen, es geht sogar um Doping und Kommerzialisierung, und die Schönheit des Radsports hat sich diesem auf seine Art französischen rasenden Reporter auch erschlossen. Das ist jetzt aber sehr kurz gesagt, zu kurz eigentlich. Martin Krauß

Albert Londres: Die Strafgefangenen der Landstraße. Reportagen von der Tour de France. Covadonga Verlag, Bielefeld 2011, 124 S., 12,80 €

Nachdenken in Neustadt

Franziska ist jung, hat gerade ihr Architekturstudium beendet und geht mit hehren Zielen in die Provinz, um beim Aufbau von Neustadt zu helfen. Doch zwischen Plattenbauten und Parteikader kann sie ihre Vorstellung von Architektur nicht umsetzen. Das und die scheinbare Ignoranz ihres Freundes Ben lässt Franziska zweifeln: an sich, an ihrem Beruf und an dem Land, in dem sie lebt. Brigitte Reimanns unvollendeter Roman ist mit 639 Seiten nicht gerade das leichteste Reisegepäck, aber bestimmt das beste, denn die Geschichte von Franziska geht unter die Haut. Und wer sich das Buch lieber anhören möchte, in der reihe Starke Stimmen (Brigitte Hörbuch) verleiht die Schauspielerin Johanna Wokalek Franziska Linkerhand ihre Stimme. Ein Ohrenschmaus.
Katrin Richter

Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2000, 639 S., 12,95 €

Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand. Starke Stimmen, Random House

Schreiben aus New York

Warum gilt der Central Park als Garten aller New Yorker? Und wie kommt es, dass sich die extravagante Arlene mit dem Bobtail Bentley anfreundet, obwohl sie doch Hunde hasst? Helene Hanff schildert in ihren »Briefen aus New York« das Leben in der Upper East Side in den späten 70er- und frühen 80er-Jahren. Ursprünglich als fünfminütige Radiobeiträge für die BBC entstanden, sind die niedergeschriebenen Erzählungen aus Manhattan seit ein paar Jahren auch auf Deutsch erhältlich. Helene Hanff gelingt es, mit Liebenswürdigkeit und Ironie das Besondere im Alltäglichen zu sehen. Egal, ob man nach Manhattan fährt oder den Sommer woanders verbringt, ihre »Briefe aus New York« sind eine unterhaltsame Urlaubslektüre. Tobias Kühn

Helene Hanff: Briefe aus New York. Aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel. Hoffmann und Campe, Hamburg 2004, 221 S., 14,90 €

Lästern in Wien

Er beobachtet nur, zuerst kritisch, zunehmend mit Verachtung. So sitzt der Erzähler im Ohrensessel und mag sich weder unterhalten, noch sich zu den restlichen Gästen des künstlerischen Abendessens setzen. Stück für Stück nimmt dieses literarische Ich Bernhards die gehobene Wiener Gesellschaft auseinander. Die ständige Wiederholung und das gänzliche Fehlen von Absätzen oder Kapiteln lassen die Ab- rechnung immer schärfer und schärfer werden. Genau die richtige Mischung an Erregung für träge Sommertage. Tobias Marti

Thomas Bernhard: Holzfällen. Eine Erregung. Suhrkamp Verlag, Berlin 1988, 336 S., 10 €

Israel

Warum ich meine gelbe Schleife nicht ablege

Noch immer konnten nicht alle Angehörigen von Geiseln Abschied von ihren Liebsten nehmen

von Sophie Albers Ben Chamo  17.10.2025

Berlin

Neue Nationalgalerie zeigt, wie Raubkunst erkannt wird

Von Salvador Dalí bis René Magritte: Die Neue Nationalgalerie zeigt 26 Werke von berühmten Surrealisten. Doch die Ausstellung hat einen weiteren Schwerpunkt

von Daniel Zander  17.10.2025

Theater

K. wie Kafka wie Kosky

Der Opernregisseur feiert den Schriftsteller auf Jiddisch – mit Musik und Gesang im Berliner Ensemble

von Christoph Schulte, Eva Lezzi  17.10.2025

Frankfurter Buchmesse

Schriftsteller auf dem Weg zum Frieden

Israelische Autoren lesen an einem Stand, der ziemlich versteckt wirkt – Eindrücke aus Halle 6.0

von Eugen El  17.10.2025

Kino

So beklemmend wie genial

Mit dem Film »Das Verschwinden des Josef Mengele« hat Kirill Serebrennikow ein Meisterwerk gedreht, das kaum zu ertragen ist

von Maria Ossowski  17.10.2025

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Esther Abrami

Die Klassik-Influencerin

Das jüngste Album der Französin ist eine Hommage an 14 Komponistinnen – von Hildegard von Bingen bis Miley Cyrus

von Christine Schmitt  16.10.2025

Berlin

Jüdisches Museum zeichnet Amy Gutmann und Daniel Zajfman aus

Die Institution ehrt die frühere US-Botschafterin und den Physiker für Verdienste um Verständigung und Toleranz

 16.10.2025

Nachruf

Vom Hilfsarbeiter zum Bestseller-Autor

Der Tscheche Ivan Klima machte spät Karriere – und half während der sowjetischen Besatzung anderen oppositionellen Schriftstellern

von Kilian Kirchgeßner  16.10.2025