Kooperation

Pergament trifft Software

Sefardischer Friedhof Königstraße in Hamburg Foto: Heide Sobotka

Wo der Zahn der Zeit nagt, gehen oft wertvolle Informationen verloren. Das kann Dokumente aus Papier betreffen, aber auch ganz andere Informationsträger. Damit der Wissensschatz aus vielfältigen Quellen nicht für immer verschwindet, haben das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien Potsdam (MMZ) und das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) eine Kooperation vereinbart.

Die Forschungsfelder des Moses Mendelssohn Zentrums sollen dabei mit der Technologie des IPK erschlossen werden. Die Methoden moderner Datenverarbeitung werden dabei genutzt, um wissenschaftliche Erkenntnisse aus Quellen zu erschließen, die anders kaum oder gar nicht (mehr) zugänglich wären.

MMZ-Direktor Julius H. Schoeps sagt über die Kooperation: »Für unsere Forschung wird die Nutzung modernster Technologien, die wir gemeinsam mit den Fraunhofer-Kollegen für unsere Aufgabenstellung weiter entwickeln, einen Quantensprung bedeuten.«

interdisziplinär Zahlreiche Anfragen vonseiten jüdischer Archive und Museen aus der ganzen Welt hätten gezeigt, so das MMZ, dass ein großer Bedarf am Einsatz der Rekonstruktionstechnologie des IPK bestehe, die unvollständige oder schlecht erhaltene Daten vervollständigen kann. Auf dieser Grundlage haben die beiden Projektpartner eine internationale interdisziplinäre Projektinitiative zum Erhalt und zur Wiederherstellung von jüdischem Kultur- und Erinnerungserbe entwickelt. Darüber hinaus soll die Kooperation auf die aktuellen Themengebiete der Raubkunstfahndung sowie der Suche nach antisemitischen Symbolen im Internet ausgeweitet werden.

Dabei bringt das IPK seine Technologie in die Partnerschaft ein, die auf modernsten Methoden der digitalen Mustererkennung und Bildverarbeitung basiert, um zerstörte und beschädigte Dokumente und Objekte virtuell zu rekonstruieren und zu erschließen. Mit ihrer Hilfe sollen Schätze des kulturellen und historischen Erbes, die vom Mendelssohn-Zentrum erforscht werden, erhalten und wiederhergestellt werden.

Die Technologien sind zum Teil bereits in der Praxis erprobt worden, wie Bertram Nickolay, Leiter der Abteilung Sicherheitstechnik am Fraunhofer IPK, erläutert: »Unsere Erfolge bei der virtuellen Rekonstruktion der zerrissenen Stasi-Unterlagen bilden den Grundstock für die Projekte, die sich mit zerstörten oder beschädigten Archiven befassen und Dokumente durch Digitalisierung weltweit verfügbar machen.«

Projektvorschläge Diese Expertise kam bisher etwa bei der Erschließung und Auswertung zerstörter und beschädigter Fragmente der Fundación IWO in Buenos Aires oder der Digitalisierung und Katalogisierung der Bibliothek der deutschsprachigen Prager Literatur zur Anwendung. Zwischen dem Moses Mendelssohn Zentrum und dem IPK wurden nun insgesamt neun Projektvorschläge vereinbart, zu denen etwa die Digitalisierung der Strashun-Bibliothek in Vilnius im Rahmen einer EU-Projektinitiative gehört. Ebenso ist die Etablierung eines Bildarchivs des deutschen Judentums geplant.

Eine weitere Anwendungsmöglichkeit der Mustererkennungstechnologie soll zur automatisierten Erfassung von antisemitischen Symbolen auf Webseiten, in Online-Foren und sozialen Netzwerken dienen. Im Zusammenhang mit der israelischen Militäroperation »Protective Edge« im Gazastreifen etwa werden soziale Netzwerke wieder mit antisemitischer Propaganda überschwemmt. Um das Ausmaß der Hetze erfassen zu können, ist es notwendig geworden, auf digitale Technologien zurückzugreifen, die leistungsfähiger sind als menschliche Mitarbeiter und Freiwillige, die das Internet praktisch »zu Fuß« durchforsten.

Datenverarbeitung Aber nicht nur Papier und digitale Quellen wollen die Mitarbeiter der beiden Forschungseinrichtungen auswerten. Grabsteine etwa ermöglichen Ahnenforschung und Rückschlüsse auf lokale Entwicklungen über Jahrhunderte. Doch Verwitterung und Vandalismus haben die Inschriften vieler jüdischer Grabmale beinahe unleserlich gemacht. Die Planungen für die Entwicklung intelligenter mobiler Werkzeuge, die unkenntliche Grabinschriften auf jüdischen Friedhöfen wieder lesbar machen sollen, sind bereits weit fortgeschritten, heißt es.

Die technischen Herausforderungen, vor denen das Moses Mendelssohn Zentrum und das IPK stehen, schienen vor einiger Zeit noch unlösbar. Doch die rapiden Fortschritte in der Datenverarbeitung, die unstrukturierte Daten in maschinenverständliche Modelle übersetzt, tragen inzwischen Früchte. Dennoch bleiben für die Programmierer des IPK noch einige Hürden zu überwinden.

»Unsere zahlreichen anderen, meist für industrielle Anwendungen entwickelten Technologien bei der Bewahrung des kulturellen jüdischen Erbes anzuwenden, stellt uns Ingenieure vor ganz besondere, spannende Herausforderungen«, sagt IPK-Leiter Nickay erwartungsvoll.

Julius Schoeps ist währenddessen von der interdisziplinären Herausforderung fasziniert: »Ich freue mich auf die Zusammenarbeit von Ingenieuren und Geisteswissenschaftlern, die uns neue Horizonte öffnen wird.« Die avancierte Technologie werde dabei helfen, ist Schoeps sicher, »jüdische Geschichte in einer ganz neuen und größeren Dimension zu erschließen.«

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