Musik wird die Fähigkeit nachgesagt, Menschen über nahezu sämtliche Grenzen hinweg zu vereinen. Dass durch die Musik aber auch Familienmitglieder zu-einanderfinden – selbst solche, die bislang als »verschollen« galten –, das kann Michael Alexander Willens bestätigen. Willens, gebürtiger Amerikaner und seit 1996 in Deutschland zu Hause, ist Dirigent und künstlerischer Leiter der Kölner Akademie, die von ihm selbst vor fast 30 Jahren gegründet wurde. Ihr Repertoire umfasst Barock, Romantik, Klassik, zeitgenössische Musik und Jazz. »Ich bin immer noch ganz aufgeregt, wenn ich an den Tag denke, als der Anruf kam«, berichtet Willens.
Vor Kurzem stand für ihn und sein »Shvayg Mayn Harts«-Orchester ein Konzert im westfälischen Münster auf dem Programm. »Und zwar ein Abend mit den jiddischen Liedern meiner Großväter Alexander Olshanetsky und Herman Yablokoff«, erzählt Willens. Dieses Projekt liege ihm besonders am Herzen. Denn sein Großvater war der berühmte Komponist, Dirigent und Violinist Alexander Olshanetsky (1892–1946). Der hatte ab Mitte der 1920er-Jahre der jiddischen Theaterszene in New York seinen künstlerischen Stempel aufgedrückt und der Nachwelt ein reiches musikalisches Repertoire hinterlassen.
»Damals war mein Großvater in den USA etwa so bekannt wie Andrew Lloyd Webber es hierzulande heute ist«, erklärt Willens. Bis in die Gegenwart klingen Melodien wie »Papirosn«, »Belz, Mayn Shtetele Belz«, »Ikh hob dich tsufil Lib« nach. Auch für das Konzert in Münster standen sie auf dem Programm. »Wir mussten vorher die Werbung selbst in die Hand nehmen«, sagt Willens. »Deshalb habe ich mich bei den jüdischen Gemeinden gemeldet, um dort Anzeigen zu schalten, neben Münster auch in Dortmund und Gelsenkirchen«, meint der 73-Jährige. Dort wurden Plakate platziert, auf denen das Orchester mit dem Namen seines Großvaters zu erkennen ist.
Willens hat schon lange nach Mitgliedern der weit verzweigten Familie gesucht
»Eines Morgens bekam ich dann einen Anruf von einer Frau, die sich erkundigte, wo sie Tickets zu unserem Konzert bekommen könne. Als sie mich fragte, wer ich sei, antwortete ich ihr, dass ich der Dirigent des Konzerts bin, auf dem die Musik meines Großvaters Alexander Olshanetsky gespielt wird«, so Willens. Plötzlich habe am Ende der Leitung Stille geherrscht. »Als ich nachfragte, was los sei, antwortete sie: ›Dann sind Sie mit meinem Mann verwandt!‹« Das sei ein besonderer Moment gewesen. Schließlich habe Willens schon lange nach Mitgliedern der weit verzweigten Familie gesucht. Sie stammt ursprünglich aus der ukrainischen Stadt Odessa. Manche Verwandte, die, anders als Willensʼ berühmter Großvater, nicht in die USA emigriert waren, wurden während des Zweiten Weltkriegs nach Russland evakuiert.
Zur beiderseitigen Freude stand im Anschluss an das Konzert ein gemeinsamer Besuch mit den neu entdeckten Verwandten im Restaurant an. Ein erstes gegenseitiges Kennenlernen. Im Laufe der kommenden Tage fügte sich Teil für Teil eines Puzzles zusammen. »Mein Großcousin Mischa Olshanetsky, der Mann jener Frau, die mich an besagtem Tag anrief, ist Arzt. Mit seiner Familie hat er sich 1997 in Dortmund niedergelassen, während ich seit 29 Jahren in Köln lebe«, sagt Willens. 28 Jahre lang habe man also mit einem Abstand von nur 93 Kilometern zeitgleich in Nordrhein-Westfalen gelebt. »Ich hatte eine vage Ahnung davon, dass ein Teil unserer Familie in den USA lebte und dort Bekanntheit in der Welt der Musik erlangt hat«, erzählt Großcousin Mischa Olshanetsky. Doch sein Großvater habe ihn – vor dem Hintergrund der politischen Situation in Russland – vor einer Kontaktaufnahme gewarnt.
»Als ich nun im Restaurant meine Tochter Bella (29) neben meinem Großcousin Michael Alexander sah, war die Ähnlichkeit so groß, es war unglaublich«, schildert Olshanetsky seinen ersten Eindruck. Willens ergänzt: »Als ich Mischa zum ersten Mal im Publikum sah, war klar, dass wir verwandt sind.« Ob die Tatsache, dass Großnichte Bella den gleichen Namen trage wie seine Großmutter, nicht doch auf ein Wissen über die offizielle Familienchronik hinaus schließen lasse? Beide verneinen das. »Ich wusste nichts davon, dass meine Großtante Bella Mysell, eine US-Schauspielerin der jiddischen Bühne, die auch für ihre Lyrik bekannt war, die Großmutter von Michael Aleksander Willens, den gleichen Namen wie unsere Tochter hatte.« Es sei reiner Zufall gewesen. Genau wie die Tatsache, dass seine Frau das Konzertposter entdeckt hatte.