Gießen

Tora im Herbst?

Dow Aviv, Lawrence de Donges-Amiss-Amiss und Janneta Mirova (v. l.) vom Gießener Vorstand mit der Tora, auf die die Jüdische Gemeinde bald verzichten muss; eine neue Rolle ist in Arbeit. Foto: Oliver Schepp

Die verzwickte Sache erfuhr eine nahezu göttliche Fügung: »Wir haben die Zusage des ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU), die Schirmherrschaft der Spendenaktion für unsere neue Torarolle zu übernehmen. Das ist die wichtigste Information«, freut sich Dow Aviv, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gießen.

»Wir verwenden seit vielen Jahren eine Tora, die dankenswerterweise als Leihgabe zur Verfügung gestellt wurde«, heißt es dieser Tage auf der Website der Gemeinde. »Leider ist der Eigentümer jetzt umgezogen und möchte aus familiären Gründen natürlich diese Tora mitnehmen. Eine jüdische Gemeinde ohne Tora ist undenkbar, da sie das Herzstück jeder Gemeinde ist. Daher benötigen wir jetzt dringlichst eine neue Rolle.« Darunter der Aufruf zur Spende, »und sei sie noch so klein«.

Dilemma der kleinen Gemeinde

Damit ist das Dilemma der kleinen Gemeinde auf den Punkt gebracht. Seit 1978 ist sie ein fester Bestandteil der Gießener Stadtgesellschaft, einst von dem ehemaligen Vorsitzenden Jakob Altaras gegründet. 1995 hatte die Gemeinde wieder eine Synagoge erhalten, nachdem im Zuge der nationalsozialistischen Pogrome die Neue Synagoge sowie die Synagoge in der Südanlage am 10. November 1938 zerstört worden waren. 2023 trat bei den Bauarbeiten zur Erweiterung der Kongresshalle das erstaunlich gut erhaltene Fundament der Neuen Synagoge zutage.

»Unsere Recherchen in ganz Europa und in Israel haben gefruchtet.«

Gemeindevorsitzender Dow Aviv

Nach der Planung der Architektin Thea Altaras wurde der Fachwerkbau der ehemaligen Synagoge der hessischen Landgemeinde Wohra umgesetzt und am Burggraben 6, mitten in Gießen, als Beith-Jaakov-Synagoge wiederaufgebaut. Der Neubau des Gemeindezentrums folgte.

2009 wurde die Gießener Torarolle eingebracht, der Besitzer hatte sie seinen Eltern gewidmet. »Wir waren von einer Dauer-Leihgabe ausgegangen«, sagt Aviv, aber nun sei der Eigentümer eben umgezogen. »Der genaue Zeitpunkt der Rückgabe ist noch unklar.« Das setze die Gemeinde in eine »zeitliche Zwickmühle«, so Aviv: »Wir haben noch zwei Torarollen im Schrein, aber sie sind trotz Korrekturen und Reparaturen nicht mehr koscher. Und die Erstellung einer neuen Rolle dauert mitunter Jahre.« Hinzu kommen die enormen Kosten, die zwischen 45.000 und 60.000 Euro liegen. Das ist viel Geld für eine relativ kleine Gemeinde mit rund 200 Mitgliedern.

Fieberhafte Suche

Fieberhaft begann der Vorstand mit der Suche. »Wir bemühten uns, einen Sofer zu finden, der bereits eine Rolle angefangen hatte und diese schneller beenden konnte. Unsere Recherchen in ganz Europa und Israel haben gefruchtet«, sagt der Gießener Vorsitzende.

In Bnei Brak stießen sie auf den Schreiber Menachem Mendel Dubrowski. »Mendel hatte eine Aschkenasik-Tora begonnen, deren Schriftart genau passt und den Vorstellungen unseres Rabbiners und Kantors Shimon Großberg entspricht.« Die Rolle war bereits zu einem Drittel geschrieben. »Unser Wunsch war, dass wir die Tora zu Simchat Tora Mitte Oktober einweihen können. Nach seinen Angaben schafft er das auch, und so wurde es vereinbart.«

Schließlich habe man sich auf eine Summe geeinigt, die zwischen 46.000 und 50.000 Euro liege. »Der Sofer ist schon daran, Tag und Nacht, der muss jetzt schreiben.« Die Gemeinde stehe vor einer gewaltigen Aufgabe. »Die Finanzierung ist unsere größte Herausforderung.«

Eine jüdische Gemeinde ohne Torarolle ist undenkbar, denn sie ist das Herzstück jeder Gemeinde.

Und so entstand die Spendenkation, zu der die Gemeinde zunächst auf der Website und in der »Gießener Zeitung« aufrief. Eine große Summe habe bereits ein anonymer Spender überwiesen, und von den bisherigen Spendeneinnahmen konnte die Anzahlung geleistet werden. »Wir planen noch ein Benefizkonzert in Gießen sowie verschiedene kleinere Aktionen in Zusammenarbeit mit den Service-Clubs wie etwa Lions und Rotarier.«

Die Gemeinde werde noch in dieser Woche einen zweiten Aufruf in der Lokalzeitung platzieren. Der ehemalige Synagogenbau-Verein, der jetzt Freundeskreis der Jüdischen Gemeinde heißt, hat bis Oktober ebenfalls eine Summe versprochen, die er bereitstellen möchte. »Wir sind jetzt ungefähr bei der Hälfte angekommen«, berichtet Aviv. Bereits Anfang des Jahres hatte die Gemeinde einen Antrag zur Unterstützung beim Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen gestellt.

»Eine mündliche Zusage über einen vierstelligen Betrag habe ich, das muss der Vorstand aber noch entscheiden. Ein weiterer Antrag ist bei der 91.000 Einwohner zählenden Stadt Gießen anhängig. »Da habe ich noch nichts gehört, aber ich gehe davon aus, dass sich auch die Stadt finanziell beteiligen wird.«

»Sehr große Unterstützung«

Eine »sehr große Unterstützung« habe zudem der Polizeipräsident Mittelhessens, Torsten Krückemeier, der Gemeinde zugesagt. »Er wird uns mit seinem Netzwerk und womöglich auch einer Spende zur Seite stehen«. Und sollten trotz der vielen Aktionen immer noch nicht genug Spenden zusammenkommen, »wird uns der Landesverband eine Möglichkeit eröffnen«, sagt Aviv. »Wir im Vorstand sind überzeugt: Bis Mitte Oktober haben wir die Summe zusammen.«

Aviv könne allerdings »nicht definitiv sagen, ob die Torarolle auch bis Oktober bei uns bleibt«. Im Notfall aber habe man die Möglichkeit, bei den größeren Gemeinden in Darmstadt, Frankfurt oder Wiesbaden, die über mehrere Tora­rollen verfügen, zwischenzeitlich eine Leihgabe zu erhalten, damit die Gottesdienste gewährleistet sind.

Eine große Summe habe bereits ein anonymer Spender überwiesen, die Anzahlung ist geleistet.

Und nun ist die hohe Feier der Tora-Einführung im Oktober in Sicht. Da die Gemeinde zum Gedenken an die Massaker des 7. Oktober 2023 in Israel ohnehin eine Gedenkveranstaltung geplant hatte, sollen beide Events zusammengeführt werden.

»Ein Gedenken an die Toten und direkt im Anschluss eine Feier mit Musik und Tanz für die Zukunft der Gemeinde«, sagt Aviv. »Wir hoffen, dass wir auch einen Zeitzeugen oder eine Zeitzeugin dazu einladen können.«

Mit dabei werde sicher Menachem Mendel Dubrowski sein, der Sofer aus Israel, um die letzten zwölf Buchstaben des 5. Buchs Mose zu vollenden »und die Tora bei uns zu Ende zu schreiben«.

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