Tagung des Zentralrats der Juden

»Sich nicht in der Vergangenheit einmauern«

Sich zu erinnern, das ist für Sabena Donath keine Entscheidung. Als kleines Kind hat ihr Großvater, ein Holocaust-Überlebender, dem kleinen jüdischen Mädchen Gute-Nacht-Geschichten erzählt, die im Konzentrationslager spielten; Geschichten, die von Kälte, Hunger, Entbehrungen handelten. Geschichten, die sie geprägt haben.

Donath moderierte am Mittwoch das erste Podiumsgespräch einer Konferenz des Zentralrats der Juden in Deutschland in Berlin, die sich an zwei Tagen den Themen Erinnerungskultur und Gedenkpolitik widmet. Sechs Podien zu unterschiedlichen Schwerpunkten drehen sich allesamt um eine Leitfrage: Wie kann eine nachhaltige Erinnerungskultur aussehen, in der sich die unterschiedlichen Perspektiven in der Gesellschaft wiederfinden? Und: Wie kann an die Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden erinnert werden, wenn keine Zeitzeugen mehr leben, um von ihren Erfahrungen zu erzählen?

Dass der 7. Oktober 2023 - der Tag, an dem die palästinensische Terrororganisation Hamas in Israel einfiel und ein beispielloses Massaker verübte - eine tiefe Erschütterung für jüdische Menschen darstellt, zog sich durch sämtliche Podiumsgespräche der Konferenz. So zeigten sich viele der Anwesenden auf den Podien erschrocken über eine zunehmende Verwendung des Begriffs Genozid, den aus Sicht vieler Menschen gegenwärtig Israel an Palästinensern im Gazastreifen verübt. Abgesehen von den geladenen Politikerinnen und Politikern waren die meisten Anwesenden selbst jüdisch; nicht wenige von ihnen haben Vorfahren, die in der Schoa umgebracht wurden.

Anwesende sind erschrocken über eine zunehmende Verwendung des Begriffs Genozid im Gaza-Krieg

Dass Erinnerungskultur an Dringlichkeit dazugewonnen hat, darüber schienen sich alle einig. »Dazu braucht man nur auf die Straßen zu schauen. Oder in Potsdam hinter verschlossenen Türen«, meinte die CDU-Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann - ein Verweis auf ein kürzlich enthülltes Geheimtreffen von AfD-Funktionären, rechtsextremen Aktivisten und Unternehmern im November in Potsdam, bei dem diese einen Plan zur Deportation von Menschen mit Migrationshintergrund erstellt haben sollen.

Geschichtsvergessenheit und Antisemitismus erfahren aus Sicht Connemanns eine Renaissance, die sie sich nie hätte vorstellen können. »Die unfassbare Wucht, mit der sich jetzt die Antisemiten aller Herren Länder und einer jeden geistigen Gattung vereinen, und wie sie das nach außen tragen, da wird mir wirklich schlecht.«

Deborah Hartmann, Direktorin der Gedenkstätte im Haus der Wannseekonferenz, berichtete auf einem der Podien von einer schmerzhaften Erfahrung. Als die Gedenkstätte auf ihrem Instagram-Kanal als Reaktion auf das Massaker der Hamas ihre Solidarität mit den Opfern bekundete und sich einem Aufruf zu einer Solidaritätskundgebung anschloss, wurde sie nach eigenen Angaben in der Kommentarspalte von einer jungen Frau öffentlich angegangen.

Diese hatte laut Hartmann zuvor einen Freiwilligendienst in der Gedenkstätte geleistet; nun warf sie der Institution vor, ignorant und einseitig zu sein und den »Genozid« Israels an den Palästinensern nicht anzuerkennen. Bei Hartmann löste dies Zweifel an der eigenen Arbeit aus. Sie fragte sich: Was haben wir in unserer eigenen Erinnerungsarbeit falsch gemacht, dass ein Mensch mit diesem Hintergrund so auf den Krieg im Nahen Osten blickt?

Was haben wir in der Erinnerungsarbeit falsch gemacht, dass ein Mensch mit diesem Hintergrund so auf den Krieg im Nahen Osten blickt?

Ein wiederkehrender Punkt: Die Dynamik der Erinnerungskultur. Ihre Vermittlung müsse mit der Zeit gehen. Oder wie Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) es in ihrem Grußwort formulierte: »Erinnerung ist nicht, sich einmauern in der Vergangenheit.« Sie muss für ihre Rezipienten Bezugspunkte herstellen.

Dazu schilderte die Grünen-Politikerin Marlene Schönberger ein Bildungsprojekt mit biografischem Ansatz. Berufsschulklassen, in denen etwa Schüler aus Afghanistan oder Syrien waren, die selber Fluchterfahrungen haben, hätten sich dabei erst einmal über ihre Erfahrungen ausgetauscht - Ausgrenzung, Rassismus, und eben auch Antisemitismus. Und dann gemeinsam ein Theaterstück geschrieben über den Nationalsozialismus, die Schoa und die Gegenwart.

Mit diesem Projekt seien sie durch Schulen gezogen. Schönberger lobte das Projekt als nachhaltig. Heute seien diese jungen Menschen auch angesichts des Krieges in Israel »stabile Multiplikatoren, die Schulklassen Antisemitismus erklären können.« Es sei augenöffnend, was es bewirken könne, Jugendliche nicht zu belehren, sondern ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und bei ihren eigenen Lebenserfahrungen anzusetzen.

Lesen Sie mehr dazu in unserer nächsten Printausgabe.

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