Halle

Selbstbewusst, jung, aktiv

Gespräch mit Politikberater Avi Weber (M.), der den Teilnehmern der »Nevatim«-Konferenz seine Sicht auf die Lage in Deutschland schilderte Foto: Joshua Schultheis

Die Planung der »Nevatim«-Konferenz war schon im Gange, als der Krieg in der Ukraine ausbrach. »Das hat die Welt verändert, auch die jüdische«, sagt Anastassia Pletoukhina, die Direktorin des gleichnamigen Programms der Jewish Agency for Israel (JAFI). Für sie und ihr Team war daher klar, dass sie das Thema des Treffens, bei dem am vergangenen Wochenende junge Jüdinnen und Juden in Halle zusammenkamen, anpassen mussten.

In einem Akt der kritischen Aneignung wählte man daher die Idee der »Zeitenwende« als inhaltliche Klammer der Tagung. Der Begriff, den Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) prägte, um die neue deutsche Sicherheitspolitik angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine zu beschreiben, sei »eine Einladung, um über die für uns relevanten verschiedenen Umbrüche und Konflikte in Israel, Deutschland und auf der ganzen Welt zu sprechen«, so Pletoukhina.

Engagement Diese Einladung nahmen etwa zwei Dutzend junge Menschen aus verschiedenen deutschen Städten wahr, die im Laufe des vergangenen Freitagnachmittags in Halle eintrafen. Sie alle setzen sich auf die ein oder andere Weise für die jüdische Gemeinschaft ein – die einen als Madrichim in den Jugendzentren, andere in jüdischen Bildungsprogrammen und wieder andere in der Flüchtlingshilfe.

So unterschiedlich ihr Engagement auch ist, die Themen, die sie zurzeit beschäftigen, ähneln sich: Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, ein gesellschaftlich wie meteorologisch aufgeheiztes Klima, wachsender Antisemitismus und Israelhass – und mit alldem verbunden die Frage, was das für das Judentum in Deutschland bedeutet.

In einer ersten Aufwärmrunde unterhielten sich die Teilnehmer über ihre Interpretation des Begriffs »Zeitenwende«. Jan aus Berlin berichtete davon, wie sehr der Krieg in der Ukraine auch das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinde verändere, und sprach von einer »Identitätswende«, während Philipp aus Stuttgart mit »Zeitenwende« auch die Angst vor einem Mitgliederschwund in den kleinen jüdischen Gemeinden verband.

Die Konferenz-Teilnehmer sprachen über ihre Interpretation des Begriffs »Zeitenwende«.

Um ihnen Rede und Antwort zu stehen, waren mehrere Gäste nach Halle eingeladen worden – etwa der Bundestagsabgeordnete Marcus Faber (FDP), der als Mitglied einer der Regierungsfraktionen die vom Kanzler verkündete Zeitenwende mit zu verantworten hat. Vor den politisch sehr versierten Konferenzteilnehmern musste sich der Verteidigungsexperte rechtfertigen, warum Deutschland offenbar nur zögerlich Waffen in die Ukraine liefert.

Ebenfalls anwesend war Avi Weber, Jurist und Berater der israelischen Regierung. Der Israeli, der einen Lehrauftrag an der Universität Gießen hat und fließend Deutsch spricht, schilderte den Teilnehmern seine Sicht auf die Lage in Deutschland: »Durch den Konflikt in Syrien und jetzt durch den Ukraine-Krieg hat sich Deutschland stark verändert. Für Juden bedeutet Instabilität immer auch Unsicherheit.« Für Weber steht fest: »Eine echte Zeitenwende würde bedeuten, dass Juden in Deutschland endlich sicher sind.«

Das waren die Juden, die sich an Jom Kippur 2019 in der Synagoge in Halle aufhielten, nicht. Auch einige der Teilnehmer der Nevatim-Konferenz waren damals unter den Betenden, die nur durch Glück den Anschlag überlebten. Dass sie und viele weitere junge Juden dorthin für ein Wochenende zurückkehren, »hat auch symbolischen Charakter«, sagt Michael Yedovitzky, der als Direktor der JAFI für Deutschland und Zentraleuropa für die Konferenz aus Jerusalem angereist war. In Halle biete es sich zum einen an, über die Sicherheit für jüdisches Leben zu sprechen, zum anderen aber auch über große Themen wie Solidarität und Kampf gegen Antisemitismus. Denn: »Auch Halle ist eingebunden in globale Entwicklungen.«

Zukunft Das gesamte Wochenende war eng mit der Jüdischen Gemeinde von Halle abgestimmt. Man feierte gemeinsam Schabbat und nahm zusammen mehrere Mahlzeiten ein. Der Gemeindevorsitzende Max Privorozki unterhielt sich mit den Konferenz-Teilnehmern kontrovers über die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, und das junge Gemeindemitglied Nelli Rayvich gab eine kleine Tour durch die für viele überraschend schöne Stadt. Dabei machte die Gruppe auch an verschiedenen Orten halt, die durch die Anschlagsserie eines Rechtsextremisten betroffen waren. Dazu zählte auch das Schnellrestaurant »Kiez-Döner«, in dem damals ein Gast erschossen wurde.

Es war ein Wochenende, das ganz im Zeichen eines selbstbewussten und engagierten jungen Judentums stand.

Dessen Eigentümer Ismet Tekin unterhielt sich mit den Teilnehmern der Konferenz darüber, wie er den Anschlag erlebt hatte und wie seine Aufarbeitung verlaufen war. Während die Politik und Justiz in seinen Augen versagt habe, so Tekin, sei er begeistert von der großen zivilgesellschaftlichen Solidarität und den starken Bündnissen, die Betroffene von Halle und ähnlicher Anschläge gegründet haben.

Moderiert wurde das Gespräch von Rachel Spicker, die Betroffene des Anschlags von Halle psychologisch betreut hat und in der Folge das von Nevatim geförderte Projekt »Vom Denken zum Handeln: Solidarität« initiierte.

Stütze Die finanzielle und beratende Förderung jüdischer Initiativen sei eine der Stützen von Nevatim, führt die Programm-Koordinatorin Margaryta Paliy aus. »Es geht darum, junge jüdische Menschen zu empowern und ihre Projekte zu unterstützen«, so Paliy. Außerdem ist es ein Anliegen von Nevatim, junge aktive Juden miteinander zu vernetzen und den Austausch und die Wissensvermittlung über das Judentum und Israel zu organisieren.

Viel gelernt haben die Teilnehmer der Nevatim-Konferenz allemal. Nach zwei intensiven Tagen merkte man ihnen die schweren Köpfe förmlich an. Da traf es sich gut, dass sie sich am Sonntag beim Israel-Tag, der in Halle veranstaltet wurde, etwas zurücklehnen konnten. So bildeten Klezmer-Musik, Vorträge und ein israelisches Buffet den Schlusspunkt eines ereignisreichen Wochenendes, das ganz im Zeichen eines selbstbewussten und engagierten jungen Judentums stand.

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