Liran Levy, Rachel Ben David, Tofik Abramov und Zehava Khalfa, woran würde man bei euch zu Hause erkennen, dass ihr keine aschkenasischen Juden seid?
Liran Levy: Am Geruch, der aus der Küche kommt. Meine Gewürze kaufe ich im arabischen Laden, die sind ganz anders als in der aschkenasischen Küche. Außerdem könnte man orientalische Instrumente bei mir entdecken. Ich bin Musiker und spiele zum Beispiel eine Langhalslaute namens Saz, die ganz typisch ist für die kurdische Musik.
Tofik Abramov: Bei mir zu Hause würde man wahrscheinlich nicht wirklich etwas bemerken, aber bei meinen Großeltern hängen viele Teppiche an der Wand. Sie kommen aus Aserbaidschan, das als Zentrum der kaukasischen Teppichkunst gilt.
Zehava Khalfa: Ich habe auch einen Teppich an der Wand! Das ist über den gesamten nahöstlichen Raum verbreitet. Meine Eltern kommen aus Libyen und Algerien. Mir fällt noch ein, dass ich ein Bild mit besonderen Psalmen habe, die zu einer Menora geformt sind. Das ist auch etwas Typisches für unsere Kultur, zumindest kenne ich das nicht aus aschkenasischen Haushalten.
Rachel Ben David: Bei mir würde man es an den Familienfotos erkennen. Darauf kann man sehen, wie wir Frauen uns vor den Hochzeiten mit Henna bemalen. Beim Essen merkt man es sicherlich auch. Ich tische zehn, fünfzehn Salate auf, erst dann kommt die Hauptspeise. Das ist typisch marokkanisch.
Rachel, du bist 1948 in Rabat geboren. Wie war deine Kindheit in Marokko?
Rachel: Zunächst sehr glücklich und sehr jüdisch. Ich ging in die jüdische Schule, und wir begingen die Feiertage. Daran habe ich sehr intensive Erinnerungen. Wir Juden standen unter dem Schutz des marokkanischen Königs, und einige meiner Familienmitglieder haben an seinem Hof gearbeitet. Marokko war damals französisches Protektorat, und der Einfluss der europäischen Kultur war sehr präsent. Wir Juden haben uns sowohl mit den Franzosen als auch mit den arabischen Nachbarn gut verstanden. Das hat uns zu toleranten Menschen gemacht.
Als du 14 warst, habt ihr Marokko dennoch verlassen. Warum?
Rachel: Jedes Mal, wenn im jungen Staat Israel etwas passierte, fürchteten wir, dass ein Pogrom ausbricht. Wir zogen uns in unsere Häuser zurück, die jüdischen Geschäfte wurden geschlossen. Während des Sinai-Kriegs 1956 wurden in Marokko Juden ermordet. Es gab auch einige Attentate auf den König. Wir wussten, sollte eines einmal gelingen, dann wären wir die Nächsten. Zu dieser Zeit flohen viele Juden aus Marokko. Sie wurden nachts von einer zionistischen Organisation abgeholt, die sie übers offene Meer nach Spanien schmuggelte, meist ohne Papiere. Manchen Juden ist diese Überfahrt gelungen. Manche sind nie angekommen. Das erinnert mich an unsere Gegenwart, in der genau an jener Stelle wieder Flüchtlinge in kleinen Booten nach Europa kommen.
Wie gelang euch damals die Flucht?
Rachel: Wir hatten Glück und bekamen Pässe. Wir mussten eine Ausreise als Touristen beantragen, mein Vater hatte sein Kuvert immer dabei – Bakschisch muss sein. Trotzdem war es eine Odyssee, über Spanien, Gibraltar, Italien, dann mit dem Schiff nach Israel. Eine Verwandte hatte uns gewarnt: Lasst euch nicht in den Süden in irgendein Dorf schicken! Wir ergatterten immerhin ein Zimmer in Beer Sheva – ein Raum für eine Familie mit sieben Kindern. Wir kochten auf einem kleinen Gaskocher. Mein Vater musste eine neue Arbeit finden. In Marokko hatte er eine Firma mit vielen Mitarbeitern geleitet, und wir besaßen ein wunderschönes großes Haus. Nach Israel zu gehen, bedeutete für uns also erst mal einen materiellen Abstieg.
Liran: Diese Geschichten kenne ich gut aus meiner Familie. Viele Misrachim mussten nach ihrer Ankunft sogar in Zeltstädten schlafen.
Rachel: Das war früher, noch in den 40er- und 50er-Jahren.
Zehava: Auch meine Großeltern mütterlicherseits, die 1949 nach Israel kamen, lebten zuerst in Zelten.
Zehava, deine Großeltern kommen aus Libyen. Was haben sie dir über die Zeit dort erzählt?
Zehava: Ähnlich wie bei Rachel waren auch meine Großeltern wohlhabend, zumindest die auf der Seite meines Vaters. Mein Großvater besaß Feigen- und Dattelplantagen und hat aus den Früchten Alkohol produziert. Doch Libyen war vom faschistischen Italien besetzt, und 1938 wurden dort Rassengesetze eingeführt. Die antisemitische Grundstimmung hat auch die Feindseligkeiten der Araber gegen die Juden verschärft. Schon damals wurden Juden umgebracht. Ab 1940 wurden sie in Arbeitslagern interniert, und ein Jahr später kamen die Nazis nach Libyen, bei Giado gab es sogar ein Konzentrationslager. Über diesen Teil der Schoa wissen viele gar nichts.
Liran: Das stimmt, diese Geschichte ist wenig bekannt. Auch meine Großeltern haben indirekt unter dem Nationalsozialismus gelitten. Sie lebten im Irak. Dort gab es 1941 ein Regime, das eng mit den Nazis kollaborierte. Später kam es zum Farhud, einem Pogrom an den Juden von Bagdad, bei dem Hunderte ermordet wurden.
Zehava: Wenn wir in der Schule in Israel über die Schoa lernten, ging es immer nur um Europa. Aber mein Opa hat in Libyen auch unter den Nazis gelitten! Er floh mit seiner Frau mit dem ersten Schiff nach Israel, das war noch während des Unabhängigkeitskriegs. Die Eltern meines Vaters kamen drei Monate später. Juden aus arabischen Ländern wurden damals im neugegründeten Israel mit Misstrauen empfangen, weil sie Arabisch sprachen und wie Araber aussahen oder sich vermeintlich so verhielten. Natürlich gab es Ausnahmen. Zum Beispiel Baruch Duvdevani, ein Aschkenase, der den libyschen Juden half, ins Land zu kommen. Sein Name wird bei uns in Ehren gehalten.
Wie erging es ihnen in Israel so kurz nach der Staatsgründung?
Zehava: Während die Eltern meiner Mutter wie erwähnt zuerst in einer Zeltstadt unterkamen, wurden die meines Vaters nach Safed in den Norden geschickt. Sie zogen in ein Haus, aus dem gerade erst die arabischen Bewohner geflohen waren. Später gründete mein Großvater mit anderen Juden aus Libyen ein Dorf. Dort führten sie ein ähnliches Leben wie in der Heimat, religiös und isoliert von anderen Einflüssen. Sie bauten Tabak und später Obst an. In dem Dorf haben sich meine Eltern kennengelernt, und ich bin dort aufgewachsen. Ich erinnere mich gut, wie wir als Kinder bei der Ernte halfen. Es war schön, aber wir waren auch wenig integriert in die israelische Gesellschaft. Wir sprachen untereinander nur Arabisch. Erst im Kindergarten lernte ich Hebräisch. Das hatte Folgen für unsere Bildungschancen: Ich bin die Einzige in meiner Familie, die studiert hat.
Liran, deine Großeltern sind kurdische Juden aus dem Iran und Irak. Was haben sie von ihrer Kultur mit nach Israel gebracht?
Liran: Bei den Großeltern meiner Mutter war ich als Kind oft zu Besuch. Sie lebten ihre Kultur vor allem über die Küche. Es gab immer tolles iranisches und irakisches Essen. Mit den Eltern meines Vaters hatte ich dagegen kaum Kontakt. Die Migration hat seine Familie total auseinandergerissen. Sie wurden nach ihrer Alija an einen Ort in der Wüste geschickt, an dem es gar nichts gab. Bis heute leidet die Familie darunter, viele sind arm, und einer meiner Onkel starb an einer Überdosis Drogen. Das sind keine Einzelfälle: Schicksale dieser Art sind Teil der Geschichte misrachischer Juden.
Diese Ungleichheit zwischen Juden aus dem arabischen Raum und denen aus Europa wird in Israel immer wieder angeprangert. Habt ihr diesen Unterschied in eurer Jugend bemerkt?
Liran: Natürlich wusste ich, dass die Eltern meiner aschkenasischen Freunde reicher waren. Aber als Kind war das egal. In meiner Klasse kamen alle aus unterschiedlichen Ländern, ich hatte auch einen Freund aus Indien und einen aus Äthiopien. Die Herkunft spielte keine große Rolle. Wir waren jetzt alle Israelis.
Rachel: Ich habe es ganz ähnlich erlebt. Ich war auf einem Internat, und dort waren wir alle gleich. Ich habe keinen Nachteil gespürt. Als Kind habe ich es mir immer so erklärt: Die aschkenasischen Familien hatten ja nur zwei Kinder, und wir hatten alle viele Geschwister. Natürlich bleibt da nicht so viel Geld übrig. Aber später habe ich schon von Diskriminierung gehört, zum Beispiel, dass jemand mit sefardisch klingendem Namen eine Arbeit gesucht hat und abgelehnt wurde, ein weniger qualifizierter Aschkenase den Job dann aber bekommen hat.
Zehava: Bestimmte Jobs und Positionen bekam man nur, wenn man Mitglied in einer aschkenasischen Partei war, und nicht jeder konnte Mitglied werden. Ich habe in Israel in einem Archiv gearbeitet, für das ich Interviews mit Schoa-Überlebenden transkribiert habe. Diese Leute berichteten selbst davon, wie sie Tür an Tür mit den Misrachim lebten, dann aber die Wiedergutmachungszahlungen aus Deutschland erhielten und sich dadurch einen besseren Wohnort leisten konnten. Währenddessen blieben die Misrachim zurück und lebten unter den gleichen schlechten Bedingungen weiter. Auch dadurch kam es zu Ungleichheiten, die an die zweite und dritte Generation weitergegeben wurden.
Tofik: Ich habe mit jungen Israelis darüber gesprochen, weil ich auch so viel von der angeblichen Ungleichheit gehört hatte. Aber ich habe das Gefühl, in meiner Generation gibt es diesen Unterschied gar nicht mehr. Ich habe einen misrachischen Freund, der seinen Militärdienst in einer Elite-IT-Einheit geleistet hat, von der fast alle ins Silicon Valley abgeworben werden. Da sind zwar nach wie vor viele Aschkenasen, aber das war überhaupt kein Thema zwischen denen. Es ist ja auch so, dass in meiner Generation viele untereinander heiraten, alles vermischt sich. Ich finde im Gegenteil, dieser Rassismus, den es hier in Europa noch stark gibt – dass du mit dunklerer Haut einfach anders behandelt wirst –, das gibt es zwischen den Juden in Israel weniger.
Tofik, deine Familiengeschichte unterscheidet sich von der der anderen am Tisch.
Tofik: Genau, meine Großeltern kommen aus Baku und aus Quba in Aserbaidschan, sind also kaukasische Juden. Damit gehören sie zwar auch zu der großen Gruppe der Misrachim, aber sie haben in der Sowjetunion gelebt und sind so nicht Teil der beschriebenen Migrationswelle nach Israel gewesen. Erst in den 90er-Jahren gingen einige nach Israel, andere in die USA oder wie wir nach Deutschland. Aber nach wie vor leben in Quba noch Juden, und es gibt eine ziemlich gute jüdische Infrastruktur. Wir wurden nicht im klassischen Sinne vertrieben, aber die Sowjetunion hat natürlich ihre Spuren in den Biografien hinterlassen.
Die meisten Juden in Deutschland haben ebenfalls einen postsowjetischen Hintergrund, sind allerdings aschkenasisch. Wie viel hast du mit ihnen gemeinsam?
Tofik: In vielen Dingen sind wir sicher ähnlich. Unter sowjetischer Herrschaft wurden in unseren Familien die religiösen Traditionen unterdrückt. Andererseits ist ihr Judentum und auch das, was uns hier in den Gemeinden nahegebracht wird, aschkenasisch. Mit der Zeit habe ich gemerkt: Ich bin doch anders als die meisten Juden mit postsowjetischem Hintergrund. Der Unterschied ist schwer zu beschreiben.
Was bedeutete Jüdischsein in Aserbaidschan?
Tofik: Obwohl meine Familie nicht wirklich religiös war, war immer klar, dass wir jüdisch sind. Mein Opa heißt Schalom Israel – jüdischer geht’s nicht! Gleichzeitig war er überzeugter Atheist. Seine Frau jedoch, meine Oma, kannte von ihren Eltern noch viele Traditionen: Sie kam aus einem Haushalt, in dem die Speisegesetze beachtet und viele Feiertage begangen wurden. Einiges hat sie noch an ihre Kinder weitergegeben. Sie hat zum Beispiel vor Pessach immer einen großen Hausputz veranstaltet. In der Generation meiner Eltern hat sich das dann auch durch Migration weiter verloren. Nun, in meiner Generation entdecken wir dieses Erbe wieder. Ich habe ein paar Cousins, die religiös wurden. Bei mir ist es ähnlich. Ich habe erst in meiner Oberschulzeit jüdische Veranstaltungen für mich entdeckt, und während des Studiums auch einen Rabbiner kennengelernt, der für mich prägend war. Schließlich bin ich nach Berlin gezogen, wo ich jetzt mehrere Freunde habe, die kaukasische oder bucharische Juden sind. Dadurch habe ich noch mal ein ganz neues Selbstverständnis entwickelt. Kürzlich war ich auf einer Feier und stellte fest: In diesem Raum sind gerade kaukasische Juden in der Mehrheit. Das war ein krasses Gefühl. Wir sind ja sonst eher eine Minderheit in der Minderheit.
Du bist mit 17 nach Deutschland gekommen und kamst zunächst in eine Klasse mit vielen anderen Migranten. Welche Rolle hat da deine jüdische Identität gespielt?
Tofik: Ich habe sie verschwiegen. Erst zum Abitur habe ich enthüllt, dass ich jüdisch bin. Wir sollten ein Kinderfoto von uns mitbringen, und ich entschied mich für eines aus dem jüdischen Kindergarten, auf dem ich Kippa trug – Überraschung! Manche hielten mich in der Schule wohl für einen Muslim, denn ich habe einen klassisch muslimischen Namen. Außerdem kam ich ja aus Aserbaidschan, und ich verstehe auch ein bisschen Persisch. Ich erinnere mich, dass ein Schüler mich mal auf der Straße ansprach: »Hey, es ist Ramadan, warum fastest du nicht?«
Zehava: Das erinnert mich an 2015, als die vielen Flüchtlinge kamen. Ich habe mich engagiert und syrische Familien als Übersetzerin begleitet. Die Kontaktperson sagte damals zu mir: Sag lieber nicht, dass du jüdisch bist. Wenn die Leute fragten, warum ich so gut Arabisch spreche, habe ich gesagt, dass meine Eltern aus Libyen kommen. Sie haben nie vermutet, dass ich keine Muslima sein könnte.
Liran, du bist als Musiker durch deutsche Schulen getourt und hast misrachisch-jüdische Musik gespielt. Wie haben sie dort auf dich reagiert?
Liran: Die Schüler waren sehr neugierig und haben viele Fragen gestellt. Ich glaube, die meisten wussten gar nichts über Juden aus arabischen Ländern. Aber ich erinnere mich auch, dass ich einmal in Naumburg spielte. Da kam eine Familie aus Syrien. Der Vater war so glücklich über meine Musik. Ich legte immer Pausen ein, um die Stücke zu erklären, und er sagte: »Spiel bitte einfach! Sing!«
Rachel: Die Musik fühlte sich für ihn sicher nach seiner Heimat an.
Liran: Ich sagte noch zu ihm: »Hey, das ist auf Hebräisch!« Doch für ihn klang es einfach nach arabischer Musik. Das war schön. Seit dem 7. Oktober ist es schwieriger geworden, mit dieser Musik aufzutreten.
Wie hat sich eure Situation nach den Massakern der Hamas am 7.Oktober 2023 verändert?
Rachel: Ich habe nie verheimlicht, dass ich jüdisch bin. Oft fragen die Leute wegen meines Akzents, ob ich Französin sei. Aber ich sage: »Nein, ich bin Israelin.« Marokko erwähne ich tatsächlich nicht so oft. Nicht weil ich diese Herkunft verschweigen will, aber ich fühle mich mehr israelisch. Seit dem 7. Oktober bin ich jedoch vorsichtiger geworden. Wenn ich ein Taxi bestelle zum Flughafen, und der Fahrer fragt: »Wo geht es hin?«, dann sage ich: »Nach Italien!«, obwohl ich eigentlich zu meiner Familie nach Israel fliege.
Zehava: Mein Schmerz und mein Mitgefühl gelten vor allem meiner Familie. Drei meiner Familienmitglieder wurden beim Massaker vom 7. Oktober ermordet: Keshet Kalfa, Moshe Shuva und seine Frau Yuval Bar On. Darüber hinaus fühle ich mit all unseren Brüdern und Schwestern in Israel.
Tofik: Natürlich haben wir alle Wut und Trauer in uns. Die Massaker vom 7. Oktober und die antisemitischen Vorfälle in Deutschland haben uns Juden alle sehr getroffen. Ich persönlich glaube auch, dass ich in mir eine Facette habe, die sozusagen »die andere Seite« ein bisschen versteht. Nicht nur, weil ich so häufig selbst für einen Muslim gehalten werde. Meine Mutter hat eine Weile mit Arabern gearbeitet, und ich bin mit vielen migrantischen Kindern zur Schule gegangen. Dadurch ist bei mir vielleicht mehr Empathie da als bei Juden, die diese Verbindung nicht haben. Ich sehe beide Seiten.
Zehava: Ich sehe auch die andere Seite, aber gleichzeitig verstehe ich, was die Menschen auf den Demonstrationen auf Arabisch jubeln, und erinnere mich, was sie auf der Straße kurz nach dem 7. Oktober riefen. Da hört dann die Empathie auf.
Tofik: Das ist auch klar. Mein Verständnis gilt ausschließlich unbeteiligten Muslimen – keinesfalls den Tätern oder Unterstützern dieser Ideologie.
Liran, du hast gesagt, dass es seit dem 7. Oktober schwieriger für dich ist, als Musiker aufzutreten.
Liran: Es kommt darauf an, wo. Ich trete ganz offen als misrachischer Jude auf, das ist mein Programm. In einigen Kontexten, etwa bei bestimmten Stadtfesten, kann das zu Problemen führen. Viele finden das aber auch spannend. Ich habe neben den Schulklassen auch schon vor Erwachsenen gespielt, zum Beispiel in christlichen Gemeinden. Das war eine Form des interreligiösen Dialogs, der dort entstanden ist. Ein Erfolg! Zudem habe ich mein Programm auch vor jüdischen Gemeinden gespielt, denn selbst vielen Juden in Deutschland ist unsere misrachische Kultur unbekannt.
Misrachim und Sefarden sind in den jüdischen Gemeinden in der absoluten Minderheit. Bis auf die bucharische Gemeinde in Hannover gibt es zurzeit keine aktive sefardische oder misrachische Synagoge. Wie geht ihr damit um?
Rachel: Ich habe mich als Religionslehrerin sehr schnell in die Berliner Einheitsgemeinde integriert und war auch sonst sehr engagiert. Als ich zum ersten Mal in die Synagoge Pestalozzistraße ging und den Kantor singen hörte, war ich sofort fasziniert. Es war für mich, als würde ich in ein Konzert oder in die Oper gehen. Diese jeckischen Melodien sind natürlich ganz anders als das, was es in marokkanischen Synagogen zu hören gibt. Aber dort gingen wir Frauen nie in die Synagoge, das war Männersache. Daher habe ich das erst in Berlin für mich entdeckt.
Zehava: Bei uns gingen die Frauen auch nicht in die Synagoge. Das war nicht Teil der jüdischen Tradition, mit der ich aufgewachsen bin. Aber als mein Sohn hier in Berlin Barmizwa hatte, wollte ich natürlich schon dabei sein. Wir haben es bei einer jemenitischen Familie zu Hause gemacht, weil die einzige sefardische Synagoge der Stadt seit Jahren geschlossen ist.
Hast du stattdessen mal versucht, in eine aschkenasische Synagoge zu gehen?
Zehava: Ich bin zunächst mit den Kindern in eine konservative aschkenasische Synagoge gegangen. Die war gut besucht, und man war an uns nicht sehr interessiert. Ich muss sagen, dass es für mich nicht einfach war, ein Teil der Gemeinde zu werden. Später habe ich mich dort aber mehr einbringen können, auch wenn es eine Weile gedauert hat.
Liran: In Israel war die Synagoge mein zweites Zuhause. Aber hier in Berlin kann ich nicht in den Synagogen beten. Der Grund ist nicht, dass der Ritus hier anders ist. Ich kann in Israel durchaus auch in aschkenasischen Synagogen ins Gebet finden. In Deutschland finde ich die Atmosphäre komisch, und ich komme mit der Gemeinschaft nicht zurecht.
Rachel: Bei mir ist es genau andersherum. In Israel gehe ich nur selten in die Synagoge. Ich vermisse meine Orgel einfach zu sehr!
Es ist sicher nicht immer einfach, eine Minderheit in der Minderheit zu sein, wie Tofik es vorhin ausgedrückt hat. Gibt es aber auch Vorteile, zu so einer kleinen Gruppe zu gehören?
Liran: Als Musiker ist es natürlich gut, als exotisch zu gelten. In Israel gibt es etliche wie mich, man hört diese Melodien an jeder Straßenecke. Außerdem wirst du natürlich viel mehr beobachtet, ob du das alles auch so genau spielst, wie es die Tradition will. Hier habe ich mehr Freiheiten, so zu spielen, wie ich es mag. Den Leuten fallen diese Feinheiten ja nicht auf.
Zehava: Das kenne ich als Autorin auch. Ich habe früher viele Einladungen bekommen, um zum Beispiel auf jüdisch-arabischen Veranstaltungen zu lesen. Als arabischsprachige Jüdin bist du etwas Besonderes.
Rachel: Ja, das stimmt, aber abgesehen davon? Ich bin einfach jüdisch. Das ist mir Minderheit genug!
Tofik: Ich finde, wir müssen uns gar nicht weiter aufteilen. Juden sind in Deutschland schon so eine kleine Gruppe. Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede zwischen uns, aber wenn wir uns immer stärker ausdifferenzieren, stehen am Ende zwei Leute da. Ich schätze uns für unsere Vielfalt. Ich habe hier in Berlin jemenitische Freunde, irakische Freunde, aschkenasische Freunde, und in dieser Mischung fühle ich mich extrem wohl. Aber was uns alle verbindet, ist das Jüdischsein.
Das Gespräch führten Mascha Malburg und Joshua Schultheis.