Porträt der Woche

Raus aus der Komfortzone

»Ich bin mir nicht zu schade für sogenannte Drecksarbeit und habe schnell gemerkt: Hier bin ich richtig«: Yotam Berman (21) lebt in Düsseldorf. Foto: Jochen Linz

Porträt der Woche

Raus aus der Komfortzone

Yotam Berman sammelte Erfahrungen im Auslandsjahr und macht eine Pfleger-Ausbildung

von Annette Kanis  22.03.2021 11:30 Uhr

Nach dem Abitur hatte ich eine Einladung für das »JAcademy-Programm« bekommen, ein junges Projekt der Lauder-Stiftung. Das ist eine Art Auszeit-Jahr, um Erfahrungen zu sammeln und gleichzeitig ein Netzwerk aufzubauen. Unser Jahrgang bestand aus etwa 20 jungen jüdischen Erwachsenen, die meisten aus Deutschland, aber es gab auch Teilnehmer aus Guatemala, Griechenland, Russland, Spanien und der Ukraine.

Für mich persönlich war sehr wichtig, dass ich aus meiner Komfortzone herauskommen und meinen Horizont erweitern konnte. Berlin bildete in dem Programm immer wieder die Basis, von hier aus ging es zu weiteren Stationen.

Die erste Station waren zehn Tage New York. Im August 2018 ging es los mit Schulblocks und Praktika. Zum Beispiel Workshops zur Rhetorik, über Psychologie bis zu Inhalten aus der jüdischen Philosophie. Beeindruckend war in New York auch die persönliche Begegnung mit Ronald Lauder, dem Stiftungsgründer. 15 Minuten waren für das Gespräch mit ihm geplant, doch er hat sich dann mehr als eine Stunde Zeit genommen.

Danach sind wir als Gruppe nach Israel geflogen, auch hier war ein Praktikum geplant, das ich in Yad Vashem machen konnte. Dort war ich überwiegend in der Kunstabteilung aktiv. Meine Aufgabe war das Transkribieren von alten Briefen jüdischer Künstler.

Durch das Jahr mit JAcademy ist mir der jüdische Teil in mir bewusster geworden.

Zu Israel hatte ich immer einen skeptischen Bezug. Oftmals gibt es in der Gemeinde diese Glorifizierung: Israel als Vaterland oder als »Mothership«. Nach dem Motto, man geht dorthin zurück, und man fühlt sich direkt zu Hause. Bei mir ist es ein gemischtes Gefühl. Auf der einen Seite fühle ich mich in Israel immer richtig wohl. Das sind Gefühle schon aus der Kindheit, das war auch immer irgendwie romantisch. Auf der anderen Seite sehe ich auch die Probleme. Wenn man in Tel Aviv oder in Haifa dorthin geht, wo keine Touristen sind, zum Beispiel nach Shapiro im Süden von Tel Aviv, dann sieht man auch einen anderen Teil der Gesellschaft.

WIDERSPRÜCHE Ich weiß, welche Probleme es gibt, dass es zum Beispiel auch Armut gibt, dass gewisse Menschen von der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Oder zum Beispiel erzählte ein Freund, der in den Siedlungen gearbeitet hat, dass im Bus Männer und Frauen immer getrennt saßen, die Frauen hinten und die Männer vorne. Ich sehe so eine Trennung kritisch. Oder auch das Problem mit dem Abfall, der oftmals durch die Interpretation einiger koscherer Vorschriften entsteht. Im Judentum soll man auf den Nächsten und auf die Umwelt achten. Ich finde, dieser Aspekt geht verloren, wenn ständig alles aus Plastik sein muss beim Essgeschirr und die Umwelt richtig verdreckt wird.

Im Gespräch mit einem erfahrenen Rabbiner konnten wir unsere Fragen stellen. Schwierig nachzuvollziehen war für mich das streng Religiöse. Da war ich häufig ratlos. Man hat eine Antwort bekommen, aber irgendwie keine richtige Antwort, sondern geschickt herum manövriert. Für mich sind da viele Sachen nicht schlüssig.

Zum Beispiel der Fleischkonsum. Generell gab es viele fleischige Gerichte. Man weiß ja, woher das Fleisch kommt – dass etwa große Mengen an Rindern aus Australien in den Nahen Osten geschifft werden. In Australien darf man nicht schächten, im Nahen Osten hat man nicht genug Weideplatz. Aber wo ist der Tierschutz, wenn man Rinder in einem Boot einpfercht und wochenlang nach Israel verschifft? Das ist meiner Meinung nach nicht mit dem Wohl des Tieres zu vereinbaren. Und die Schächtung hat ja den Gedanken, dass man das Tier schont. Das sind für mich Widersprüche.

ERFAHRUNGEN Als Kind und Jugendlicher war ich häufig in Israel, weil meine Mutter dort aufgewachsen ist und ich eine große Familie dort habe. Aber mit JAcademy konnte ich das Land noch einmal anders kennenlernen, vor allem Menschen, die ganz anders waren. Orthodoxe Juden vor allem. Zu sehen, wie die Leute leben, wie sie denken.

Nach einer kurzen Pause ging es dann im April und Mai 2019 nach London. Der Alltag mit der Arbeit dort in einem Thinktank hat mich sehr gefordert und auf jeden Fall sehr weitergebracht. Die Abläufe waren klar geregelt: Praktikum von acht bis 16 Uhr, danach noch Workshops und Programm.

Die Frage, die ich noch nicht für mich geklärt habe, ist: Bin ich deutscher Jude oder jüdischer Deutscher?

Auch hier hatten wir Kontakt mit orthodoxen Familien, und manche Gespräche haben mich sehr zum Nachdenken angeregt, weil ich gesehen habe, wie konservativ und dogmatisch einige dieser Familien sind, wie abgeschottet sie leben in ihrem homogenen Umfeld. Es verwundert mich, obwohl sie im beruflichen Alltag Kontakt mit der breiten Bevölkerung haben, dass trotzdem oft die Akzeptanz gegenüber Andersdenkenden fehlt. Diesen Eindruck hatte ich sowohl in New York und Jerusalem als auch in London.

IDENTITÄT Durch das Auslandsjahr mit JAcademy ist mir der jüdische Teil in mir bewusster und präsenter geworden. In meiner Schulzeit hatte ich wenige Berührungspunkte, ich bin selten in die Synagoge gegangen, es wurden nur die wichtigsten Feiertage begangen, und als Vegetarier war koscheres Essen kein großes Thema bei uns. Jetzt konnte ich einen Bezug finden: zwischen meinem Alltagsleben und meiner jüdischen Identität. Der große philosophische Teil ist mir bewusster geworden. Wenn man sich damit intensiver beschäftigt, kann man wirklich eine Moral für alltägliche Situationen daraus mitnehmen: dass ich sagen kann, ich bin vielleicht nicht so nachtragend gegenüber Menschen, oder ich urteile nicht so viel und habe mehr Geduld.

Ich selbst bin in Düsseldorf geboren. Mein Vater ist Deutscher, meine Familie mütterlicherseits wohnt in Israel. Mehr zu Hause fühle ich mich auf jeden Fall in Deutschland. Hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich meine Freunde. Meine Mutter bezeichnet mich immer als »sehr preußisch« – wie ihr Großvater Fritz, immer sehr korrekt. Die Frage, die ich noch nicht für mich geklärt habe, ist: Bin ich deutscher Jude oder jüdischer Deutscher?

Aber ich habe auch eine gewisse israelische Seite an mir. Das zeigt sich zum Beispiel darin, wie ich mit Antisemitismus umgehe. Sehr viele im Diaspora-Judentum haben ja diese Art, dass man sich beschützen, sich zurückziehen und hinter Mauern verstecken muss. Ich glaube, davon ist diese israelische Seite etwas befreiter.

Trotz anfänglicher Zweifel, ob eine Ausbildung der richtige Weg ist, wurde mir schnell klar, dass ich in einem Bereich arbeite, wo man Erfahrung braucht.

Ich war eineinhalb Jahre auf der jüdischen Grundschule. Damals wa-
ren mehr als 90 Prozent russischsprachige Kinder dort. Das war nicht so einfach. Ich wechselte später auf eine katholische Grundschule, das war viel bunter durchmischt und hat mich gut vorbereitet auf das Gymnasium danach. Momente, in denen Antisemitismus eine Rolle spielte, habe ich sehr wenige erlebt. In der Grundschulzeit gab es nur einen Vorfall, bei dem ein Junge antisemitische Sprüche geäußert hat. Das wurde besprochen, die Lehrer haben darauf angemessen reagiert. Vor zwei Jahren habe ich ihn wiedergesehen. Er meinte, dieser Vorfall hätte sein Denken verändert. Das lehrte mich, dass man mit den Leuten sprechen sollte, bevor man mit dem Finger auf sie zeigt.

Im vergangenen Oktober habe ich eine Ausbildung als Pfleger in der Psychiatrie angefangen. Als mein Jahr mit der JAcademy zu Ende ging, war ich total von diesen Workshops rund um Psychologie fasziniert. Und in zahlreichen Gesprächen mit meinem Großonkel, von Beruf Psychiater, fand ich immer mehr Begeisterung für die Psyche des Menschen.

Trotz meiner anfänglichen Zweifel, ob eine Ausbildung der richtige Weg ist, ist mir relativ schnell klar geworden, dass ich in einem Bereich arbeite, wo man Erfahrung braucht: beim Kontakt mit Patienten und Mitarbeitern und allgemein in der Pflege.

GESUNDHEIT Ich bin mir nicht zu schade, wie es einige Leute ausdrücken, diese »Drecksarbeit« zu machen. Das ist für mich kein Problem. Ich habe schnell gemerkt: Ich bin hier richtig, mir macht es Spaß, ich habe einen guten Draht zu den Patienten.

Bereits in den ersten Monaten konnte ich auf jeden Fall sehr viel über mich herausfinden. Ich schaffe es, Distanz zu wahren, ich nehme die Patienten und die Arbeit nicht mit nach Hause – das war für mich sehr wichtig. Und ich habe einen Freundeskreis, mit dem ich über meine Erfahrungen sprechen kann.

Psychische Erkrankungen können jeden betreffen, und vielleicht ist das auch für mich eine Warnung, dass ich auf meine psychische Gesundheit zusätzlich zur körperlichen Gesundheit achten muss. Ich habe ein Ventil gefunden, das ist bei mir der Sport. Ich mache Yoga, und ich rudere – beides als Ausgleich zur Arbeit. Wenn ich von der Arbeit komme, aus diesem lauten geschlossenen Raum, gehe ich in die Ruhe und finde Balance im Yoga. Oder ich gehe ins Freie und kann mich beim Rudersport auf dem Rhein auspowern.

Aufgezeichnet von Annette Kanis

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