Porträt der Woche

Papageno aus Tel Aviv

»Ich bin bei Mozart und im Belcanto zu Hause«: Shlomi Wagner (28) in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg Foto: Rolf Walter

Porträt der Woche

Papageno aus Tel Aviv

Shlomi Wagner möchte als Opernsänger in Berlin Fuß fassen

von Tobias Kühn  19.03.2013 07:00 Uhr

Seit meiner Kindheit singe ich. Als kleiner Junge konnte ich manchmal abends nicht einschlafen; dann sagte meine Mutter zu mir, ich solle singen, irgendwann würden meine Augen dann schon zufallen. Also sang ich. Dass ich viele Jahre später ein professioneller Sänger werden würde, ahnte damals niemand.

Meine Eltern hatten beruflich nichts mit Musik zu tun. Meine Mutter ist Ärztin, und Vater war Physiker, er starb vor sechs Jahren. Beide stammen aus Russland, Mutter aus Moskau, Vater aus Sankt Petersburg. In den 70er-Jahren wanderten sie nach Israel aus und lernten sich im Ulpan kennen. Mein Vater war damals verheiratet und hatte einen kleinen Sohn. Doch er ließ sich scheiden und gründete eine neue Familie. Und so wurde ich 1984 geboren, in Bat Yam, einer mittelgroßen Stadt südlich von Tel Aviv.

pubertät In der Grundschule fing ich an, Geige zu lernen, aber ich war nicht sehr gut. Als ich aufs Gymnasium kam, stand für mich fest, dass ich später Naturwissenschaftler werden würde. Das lag nahe, denn ich sah, wie mein Vater forschte und zu Hause oft wissenschaftliche Aufsätze las. Doch dann kam die Pubertät. Ich rebellierte – und wollte Sänger werden.

Mit 17 nahm ich meinen ersten Gesangsunterricht – bei einer Operndiva, die aus Ungarn kam und mit schrecklichem Akzent Hebräisch sprach. Aber sie konnte singen – unglaublich! Etwa um diese Zeit reiste ich das erste Mal nach Berlin. Ich war damals bei der sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair, und wir besuchten unsere Kollegen, die Falken, Deutschlands Sozialistische Jugend.

Damals habe ich mich in die deutsche Sprache verliebt, und diese Liebe hält bis heute. Deutsch ist faszinierend – aber so kompliziert! Wer Englisch lernt, glaubt nach ein paar Jahren, die Sprache eines Tages nahezu perfekt zu beherrschen. Mit dem Deutschen ist das anders. Man merkt sehr bald, dass man es wohl nie perfekt sprechen können wird. Das zu wissen, kann frustrierend sein. Aber ich bin nicht frustriert – im Gegenteil: Ich freue mich, immer wieder neue Ebenen des Deutschen zu entdecken.

Seit Dezember lebe ich in Berlin. Gemeinsam mit meinem Freund Tamir (32) bewohne ich ein kleines Apartment im Prenzlauer Berg. Wir sind seit zweieinhalb Jahren ein Paar. Tamir leistet zurzeit einen Freiwilligendienst bei Aktion Sühnezeichen. Er arbeitet in einem Jugendkulturzentrum und mit älteren Menschen in der Jüdischen Gemeinde. Als er sich für diesen Freiwilligendienst entschied, beschloss ich, mitzugehen und mir endlich einen langen Traum zu erfüllen: nach Berlin zu ziehen.

formulare Berlin ist eine sehr attraktive Stadt – und so billig! Es ist ganz anders hier als in anderen Städten, die ich bisher kennengelernt habe. Berlin ist mir sehr fremd, und es kostet mich durchaus etwas Anstrengung, mich an die Stadt anzupassen. Alles hier ist sehr organisiert und bürokratisch, und für alles Mögliche gibt es ein Formular. Aber mich stört das nicht. Derart durchorganisiert zu sein, hat nämlich auch seine guten Seiten. So ist Deutschland das einzige Land, in dem es eine ZAV-Künstlervermittlung gibt. Eine großartige Erfindung! ZAV heißt Zentrale Auslands- und Fachvermittlung. Ein Opernsänger wie ich kann dort vorsingen, und professionelle Agenten helfen einem dann, Auftritte zu organisieren und beruflich Fuß zu fassen.

Solange es bei mir noch nicht so richtig angelaufen ist, übernehme ich zu Hause – wenn man so will – den »Hausfrauenpart«. Ich putze die Wohnung und kaufe ein, jemand muss es ja tun. Tamir kümmert sich um die Wäsche, das liegt mir nicht. Und Kochen – das tun wir gemeinsam, vor allem am Wochenende.

Im Sommer habe ich ein kleines Engagement beim Opernfestival in Rheinsberg bekommen, einer kleinen Stadt nördlich von Berlin. Da werde ich in Rossinis »Barbier von Sevilla« den Fiorillo spielen, den Diener des Grafen Almaviva. Das ist zwar nur eine kleine Rolle, aber sie ist lustig! Ich mag es, auf der Bühne der Lustige zu sein. Auch in der »Zauberflöte« bin ich der Lustige, da spiele ich den Papageno. Diese Rolle gefällt mir viel besser als die des Tamino.

Doch bei aller Lustigkeit ist es ein harter Job. Opernsänger sind ebenso Schauspieler und müssen körperlich fit sein. Dahinter steckt viel Arbeit – und mancher Verzicht. Zum Beispiel darf ich nicht rauchen, und bevor ich auftrete, sollte ich keine Schokolade oder etwas Saures essen. Einen Abend vor dem Auftritt gehe ich weder aus noch trinke ich viel. In manchem ähnelt meine Arbeit der eines Sportlers, denn mein Körper ist mein Instrument.

üben An einem normalen Tag stehe ich gegen neun Uhr auf. Nach dem Frühstück gehe ich zum Deutschunterricht in die Jüdische Gemeinde. Etwa drei Stunden bleibe ich da. Dann kehre ich zurück und übe. Es klingt nicht immer schön, wenn ein Sänger übt. Deshalb muss ich Rücksicht auf die Nachbarn nehmen. Manche Übung hört sich wirklich seltsam an, die kann ich abends, wenn die meisten zu Hause sind, nicht machen. Aber am frühen Nachmittag hören es nur wenige. Die Stimme ist etwas, was mich jeden Tag fasziniert, immer lerne ich etwas Neues. Es braucht Jahre, bis eine Stimme gut entwickelt ist.

Nach dem Abitur bin ich an die Musikakademie nach Tel Aviv gegangen. Drei Jahre habe ich dort studiert. Mein erster Kurs waren deutsche Lieder: Schumann, Schubert, Brahms. Ich sang sie – und verstand kein Wort. Später habe ich sie mir übersetzt.

Ursprünglich war ich Tenor. Doch eines Tages kam eine bekannte New Yorker Sängerin, Trish McCaffrery, zu uns nach Tel Aviv an die Akademie, und ich nahm bei ihr Unterricht. Sie hörte mich singen und sah mich an: »Du bist kein Tenor«, sagte sie, »du bist Bariton.« Das irritierte mich, und ich brauchte einige Zeit, bis ich es glaubte. Aber heute bin ich dieser Frau sehr dankbar. Sie hat mir geholfen, meine natürliche Stimme zu finden. Ich war von Trish McCaffrery derart begeistert, dass ich nach meinem Abschluss in Tel Aviv zu ihr nach New York ging, um an der Manhattan School of Music weiterzustudieren. Ich hatte das Glück, ein Stipendium zu bekommen und blieb dreieinhalb Jahre dort.

repertoire
Manchmal werde ich gefragt, wie ich zu Richard Wagner stehe, schließlich tragen wir denselben Familiennamen. Nun, ich habe kein Problem damit, Wagner zu hören oder in seine Opern zu gehen. Aber ich muss gestehen, dass ich noch nie eine Wagner-Oper vom Anfang bis zum Ende gehört habe, denn sie sind sehr lang. Ich selbst singe keine Wagner-Stücke, das ist nicht mein Fach, ich bin nicht dramatisch genug, sondern eher bei Mozart oder im Belcanto zu Hause und habe ein größeres französisches Repertoire.

Seit einiger Zeit unterrichte ich auch. Ich habe zwei Schüler – einen Mann und eine Frau –, die regelmäßig zu mir kommen. Das macht Spaß, und ich könnte mir vorstellen, noch mehr Gesangsschüler zu unterrichten. Aber vor allem wünsche ich mir, häufiger selbst öffentlich zu singen, am liebsten Opern. Doch das braucht seine Zeit, ich bin ja auch erst seit vier Monaten in Deutschland. Derzeit lebe ich von meinen Ersparnissen, doch ich hoffe, dass ich mit dem Singen bald wieder Geld verdiene.

Aufgezeichnet von Tobias Kühn

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