Düsseldorf

Ohnmächtige Traurigkeit

Ruth Rubinstein bei der Zeremonie zum 20-jährigen Gedenken an den Anschlag im Stadtteil Wehrhahn Foto: picture alliance/dpa

Punkt 15.04 Uhr am vergangenen Montag: Leise Trompeten- und Oboenklänge versuchen sich gegen den Verkehrslärm der angrenzenden Straße und das Rauschen des abgebremsten ICE-Zuges unter der Brücke durchzusetzen. Mit Musik beginnt das Gedenken an den 27. Juli vor 20 Jahren. Um 15.04 Uhr detonierte hier, nahe der S-Bahnstation Wehrhahn, eine Bombe.

Sie war in einer am Geländer befestigten Plastiktüte versteckt. Sie verletzte zehn Menschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die auf dem Weg von ihrer nahe gelegenen Sprachschule zur S-Bahnstation gewesen waren, einige von ihnen lebensgefährlich. Und sie tötete ein ungeborenes Baby im Mutterleib. Ein winziger Splitter reichte aus.

Ekaterina Pyzova erzählt stellvertretend von dem Leid der Anschlagsopfer.

Groß war das Leid durch diesen Anschlag, dem rassistische und antisemitische Motive zugrunde lagen. Ekaterina Pyzova berichtete bei der Gedenkveranstaltung, die von der Düsseldorfer Bezirksvertretung gemeinsam mit Vertretern der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf organsiert worden war, als Opfer – sie selbst war damals schwer verletzt worden – von ihren Eindrücken und den Folgen des Anschlags.

Leid Die aus Kasachstan Ausgewanderte erinnerte an »körperliches und seelisches Leid«, das den Anfang eines neuen Lebens in der neuen Heimat von einem Tag auf den anderen veränderte. Kurz zuvor sei sie voller Hoffnung nach Deutschland gekommen.

»Die Tat hat mein ganzes Leben ausradiert.« Sie sandte »bittere Grüße« an die Polizei, die Staatsanwaltschaft sowie den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) und fasste damit ihre Vorwürfe zusammen, dass die Tat nie aufgeklärt wurde und die Opfer sich mehr Unterstützung erhofft hätten.

Rechtsextremist 2017 war ein Verdächtiger mit rechtsextremistischem Hintergrund festgenommen worden. Der rechtsradikale ehemalige Militaria-Händler wurde wegen versuchten Mordes angeklagt. Das Landgericht Düsseldorf sprach ihn jedoch 2018 wegen nicht ausreichender Beweislage frei. Doch der Prozess könnte wiederaufgenommen werden. Die Staatsanwaltschaft hat Revision eingelegt, über die demnächst der Bundesgerichtshof zu befinden hat, wenn ihm der Fall von der Bundesanwaltschaft vorgelegt wird.
Unter den Verletzten waren sechs Jüdinnen und Juden.

Ruth Rubinstein, seit wenigen Wochen Ehrenvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, erinnerte an »ohnmächtige Traurigkeit, Fassungslosigkeit und Angst um uns als jüdische Menschen in dieser Stadt, in diesem Land«, als sie als damalige Vorstandsvorsitzende von dem Anschlag erfahren hatte.

Angst Die Angst, sich als Juden zu erkennen zu geben, sei seitdem konkreter geworden. Rubinstein zitierte die Worte des damaligen Zentralratspräsidenten Paul Spiegel vom »Aufstand der Anständigen«. Und ergänzte mit leicht resignierter Einschätzung, dass diese Forderung aktuell der Gesellschaft wohl zu viel abverlange und mittlerweile der Zivilcourage jedes Einzelnen eine umso größere Bedeutung zukomme.

Das Jahr 2000 war für die Düsseldorfer Gemeinde geprägt von Antisemitismus, der sich in Taten zeigte. So wurde im Herbst desselben Jahres ein Molotowcocktail auf die Eingangstür des Gemeindezentrums geworfen. Nach diesem Anschlag besuchte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder die Gemeinde, und Paul Spiegel prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des »Aufstands der Anständigen«.

Seit drei Monaten erinnern eine Gedenktafel und ein Kunstwerk an den Anschlag.

Heute betont Michael Rubinstein, Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen, dass auch nach dem Wehrhahn-Anschlag, diesem »gravierendsten antisemitischen Anschlag, den wir in dieser Stadt hatten«, Antisemitismus gegenüber der Gemeinde und einzelnen Personen in den vergangenen Jahren verstärkt zu einem Problem geworden sei.

»Ich glaube, es hat sich im Positiven wie im Negativen etwas verändert«, sagte der Gemeindedirektor. Wenn heute so etwas passieren würde wie der Wehrhahn-Anschlag, würde die Reaktion der Stadtgesellschaft eine viel deutlichere sein. Das habe die Reaktion auf den Anschlag von Halle gezeigt, nach dem auch die Düsseldorfer Gemeinde Solidaritätsbekundungen und Unterstützung erhalten habe.

Antisemitismus Auf der anderen Seite schlage einem der Antisemitismus viel deutlicher im Alltag ins Gesicht. Die allgemeine Verrohung der Gesellschaft sei auch für jüdische Menschen spürbar. »Antisemitismus ist heute offener, herausfordernder geworden.«

Auf der Gedenkveranstaltung mahnten alle Rednerinnen und Redner zu Aufmerksamkeit gegenüber antisemitischen und rassistischen Tendenzen in der Gesellschaft. So verurteilte Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) die Tat als »feige, brutal und menschenverachtend«. Die Erinnerung an diesen Anschlag sei eine Mahnung. »Keine Gesellschaft ist immunisiert gegenüber diesen menschenverachtenden Neigungen, und jeder Einzelne ist gefordert, dafür zu sorgen, dass diese Bestrebungen bekämpft werden und sich Derartiges in Düsseldorf nicht wiederholt.«

Für den Düsseldorfer Oberbürgermeister mag die Gedenkveranstaltung in Wehrhahn kein ganz einfacher Termin gewesen sein. Hatte er doch kurz zuvor breite Kritik auf sich gezogen, nachdem er den auch aufgrund seiner antisemitischen Aussagen umstrittenen Rapper Farid Bang für ein Video-Projekt eingespannt hatte, das jungen Düsseldorfern die Corona-Regeln näherbringen sollte.

ermittlungspannen Thomas Geisel betonte, es sei besonders beschämend, dass der oder die Täter bis heute nicht einer gerechten Strafe zugeführt werden konnten, weil es im Nachgang dieses Terroranschlags offenkundige Versäumnisse bei den Ermittlungen gegeben habe. Die Kritik an den Ermittlungsbehörden und der Staatsanwaltschaft stellte Betti Tielker vom antirassistischen Bündnis »Düsseldorf stellt sich quer« in ihrem Redebeitrag in den Vordergrund.

Zu der Gedenkveranstaltung waren etwa 150 Menschen gekommen. Im Alltag werden eine Gedenktafel sowie ein Kunstwerk weiterhin an den Anschlag erinnern. Sie wurden vor knapp drei Monaten angebracht und gehen auf die Initiative »Orte der Erinnerung« zurück, eines Arbeitskreises der zuständigen Bezirksvertretung. Arbeitskreisleiterin Annette Klinke (Bündnis 90/Die Grünen) hofft auf mahnende Erinnerung im Alltag: »Auch, wenn diese Tafeln nicht die Fehler der Vergangenheit ausgleichen können, hoffe ich, dass diese Mahnung den Betroffenen etwas von ihrer Würde zurückgibt.«

Die Kränze der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, in Lila-Blau-Weiß gehalten, sowie der Bezirksvertretung und des Oberbürgermeisters umrahmten die Gedenktafel. Sie bleibt, und sie soll erinnern. Die Kränze wurden nach der Veranstaltung wieder abgebaut und ins Rathaus der Stadt gebracht. Auf dem Brückenplatz war die Befürchtung zu groß, dass jemand auf die Idee kommen könnte, einen Kranz auf die Gleise zu werfen.

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