Porträt der Woche

»Ohne Klavier geht nichts«

»Ob Theater, Film oder Malerei – alles, was mit Kunst zu tun hat, bestimmt unser Leben«: Elena Bregman lebt heute in Berlin. Foto: Gregor Zielke

Porträt der Woche

»Ohne Klavier geht nichts«

Elena Bregman improvisiert gern – in der Musik und im Leben

von Christine Schmitt  20.11.2022 11:05 Uhr

Ein Espresso am Morgen ist die einzige Konstante in meinem Leben, ansonsten improvisiere ich bei meiner Tagesplanung gern, wie auch in der Musik. Um es gut machen zu können, braucht es aber unbedingt Struktur, sonst entsteht Chaos statt Improvisation. Ich plane meine Zukunft auf dieselbe Weise, weil es sowieso anders kommt, als man denkt.

Ich habe kaum Angst vor Neuem. Das liegt sicher auch daran, dass ich in meinem ersten Jahr in Deutschland weder eine Wohnung noch Geld hatte – nachdem ich 1992 aus Minsk mit einem Touristenvisum eingereist war. Ein Cellist, der zuvor mit mir gespielt hatte, bat mich, ihn bei einem Konzert in Berlin zu begleiten.

perspektiven Weil viele meiner Kammermusikpartner von der Minsker Musikhochschule, an der ich damals arbeitete, ausgewandert waren, gab es für mich dort kaum Perspektiven. Da überlegte ich nicht lange, packte für meine Tochter und mich das Notwendigste ein, und wir fuhren mit dem Zug nach Berlin.

Ich spürte, dass es in meiner alten Umgebung keine Möglichkeiten mehr gab, mich weiterzuentwickeln. In Berlin lernte ich schnell andere Musiker kennen, bei denen ich für kurze Zeit bleiben und vor allem Klavier spielen konnte. Denn ohne das geht es nicht.

Mit fünf Jahren bekam ich Unterricht bei einem Moskauer Pianisten.

In Minsk war mein Leben stehen geblieben, ohne Aussicht auf spannende Situationen. In Berlin konnte ich Kammermusik spielen und Soloabende geben, die unterschiedlichsten Formationen und Orte entdecken. Ich fühlte mich überall willkommen und konnte rund um die Uhr musizieren, ob in Synagogen, Kirchen, Rock-Klubs oder großen Konzertsälen.

Jeder Raum hat mein Spiel anders beeinflusst, es hat mich sehr bereichert und inspiriert. Schon als Kind habe ich am liebsten deutsche Komponisten gespielt. Mein Repertoire reichte von Bach, Mozart, Haydn, Schubert, Brahms über Reger, Schönberg und zeitgenössische Komponisten wie Kurt Schwaen, den ich in Berlin kennenlernen durfte.

Musikalische Phrasen bauen sich genauso auf wie die gesprochenen, zum Beispiel steht das Verb oft am Ende eines Satzes, was bedeuten würde, dass in einem musikalischen Satz das Wichtigste am Ende passiert. Deshalb hilft es, die Sprache der Komponisten zu kennen.

Originaltexte Um Deutsch zu lernen, meldete ich mich in der Jüdischen Gemeinde zu einem Kurs an. Ich erinnere mich noch sehr gut an meine Reaktion, als ich das erste Mal in diesem Kurs ein Gedicht auf Deutsch hörte. Ohne ein Wort zu verstehen, weinte ich, so schön war der Klang. Natürlich lernte ich auch die Originaltexte der deutschen Dichter kennen, die Brahms und Schubert vertonten.

Nicht lange nach meiner Ankunft wurde ich von der Hochschule für Musik »Hanns Eisler« gefragt, ob ich Studenten begleiten wollte, und fing an, dort zu arbeiten. Später auch an der Philipp-Emanuel-Bach-Oberschule und der Universität der Künste. Seit 2018 unterrichte ich an der damals neu eröffneten Barenboim-Said Akademie. Ich mag den Geist des Hauses – und dass die Studenten aus verschiedenen Ländern dort einander begegnen. Neben meiner Konzerttätigkeit unterrichte ich also auch – so gesehen ist das dann doch eine kleine Konstante in meinem Leben.

Eine Konzertreihe liegt mir besonders am Herzen – jedes Jahr im April spiele ich im großen Saal der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße anlässlich meines Geburtstages. Es ist ein besonderer Ort, neben der Kuppel, mit ihrer großen, heiligen Kraft. Für mich sind diese Konzerte eine Gelegenheit, dem Himmel für mein Leben zu danken und für die Gabe, musizieren zu können. Die Konzerte werden von Svetlana Agronik, der Leiterin des Integrationsprojektes Impuls, organisiert. Uns verbindet diese langjährige Tradition, die wir auch nächstes Jahr fortsetzen. Das Konzert findet am 16. April 2023 im großen Saal statt.

Ich lebe heute in einer Wohnung, in der mein Flügel ein eigenes Zimmer hat – oder, besser gesagt, ich teile es mir mit ihm und meinen Büchern. Dieses Instrument ist für mich etwas ganz Besonderes. Es stammt ursprünglich aus Deutschland und wurde 1914 von den Gebrüdern Zimmermann in Leipzig gebaut. Meine Mutter, die ebenfalls Pianistin ist, hat schon darauf gespielt, als sie mit mir schwanger war. Es ist wie ein Familienmitglied, und ich bin mit ihm sehr verbunden – der Flügel trägt ein Stück von unserer Geschichte.

Bevor meine Eltern mir nach Berlin gefolgt sind, haben sie das Instrument auf die Reise geschickt. Meine Mutter versetzte Berge, damit es Ende der 90er-Jahre über zwei Grenzen transportiert werden konnte. Für 100 Dollar wurde unser Flügel von der Wohnung in Minsk in einen großen Wagen geladen und folgte mir.

Spaß In meiner Kindheit unterrichtete mich meine Mutter auf diesem Instrument. Mit vier Jahren saß ich vor den schwarz-weißen Tasten und spielte die ersten Stücke. Es war nicht meine Entscheidung, ausgerechnet Klavier zu lernen, diese hatten mir meine Eltern abgenommen. Mit fünf Jahren bekam ich Unterricht bei einem renommierten Moskauer Pianisten.

Die bekannte »Moskauer Schule« versprach eine weltweit anerkannte Ausbildung, allerdings war sie mit unzähligen Stunden Üben verbunden. So wurde ich in ein Musikalisches Lyzeum für begabte Kinder aufgenommen. Die Professoren erwarteten vor allem eines: jeden Tag stundenlang zu üben. Ein Verständnis von Freude beim Musizieren gab es bei uns nicht, das habe ich erst in Deutschland kennengelernt. Am Anfang habe ich das Wort »Spaß« in Zusammenhang mit Musik gehasst. Erst mit der Zeit habe ich dessen tiefere Bedeutung verstanden.

Über Musik spreche ich am liebsten mit meinen Eltern und meiner Tochter, denn wir empfinden gleich. Mein Vater, der von Beruf Geiger ist, spielte viele Jahre lang im Orchester – in Berlin bekam er schnell Engagements und gab Konzerte, unter anderem auch in der Philharmonie.

bücher Ob Theater, Film oder Malerei – alles, was mit Kunst zu tun hat, bestimmt unser Leben. Literatur lese ich auf Russisch und Deutsch, darunter viel Lyrik. Aus Minsk brachten meine Eltern unsere Bücher mit. Nicht nur den Flügel, sondern auch viele Noten hat meine Mutter damals mitgenommen. Sie unterrichtete im Musikalischen Lyzeum in Minsk.

Wenn ich die alten Notenbände sehe, gibt mir das sehr viel – auch weil jeder Musiker etwas darin notiert hat. Sie stehen nun bei mir im Regal, die ganz alten, leicht bräunlich verfärbten, neben den neuen Editionen.

Es gibt immer Anlass für eine tiefgehende Suche. Ich wiederhole niemals, sondern gestalte immer wieder neu.

Ich spiele dieselben Werke oft aus verschiedenen Ausgaben, das gibt mir neue Anregung. Nichts ist langweiliger, als ein Stück jedes Mal gleich zu spielen. Es gibt immer Anlass für eine tiefgehende Suche. Ich wiederhole niemals, sondern gestalte immer wieder neu. Das ist das, was mich interessiert. Damit wird es nicht alltäglich, sondern jedes Mal eine neue Schöpfung.

Wandlung So gehe ich auch durchs Leben. Ich kann nicht sagen, dass ich einen Alltag habe, der sich ständig wiederholt – ich versuche, dieselben Dinge immer wieder neu zu erleben. Wenn ich nicht spiele, bin ich viel zu Fuß unterwegs. Ich mag die Verbindung mit der Natur. Und bei einem Spaziergang entsteht durch die Schritte ein Rhythmus – so gesehen bin ich dann wieder bei der Musik. Ich laufe auch oft durch Straßen, die ich seit unserer Ankunft kenne, und entdecke dort immer etwas Neues. Wenn man aufmerksam genug schaut, sieht man die Wandlung.

Seit der Auswanderung bin ich einige Male nach Minsk gereist. Dort lebt eine enge Freundin von mir, die Künstlerin Marina Kapilova. Wir kennen uns seit unserem 15. Lebensjahr. Wenn ich bei ihr bin, verbringe ich viel Zeit in ihrem Atelier, umgeben von ihren Arbeiten, die mir neue Impulse für mein Spiel geben. Einige ihrer Lithografien hängen bei mir zu Hause, auf meinem Klavier stehen ihre Bronze-Skulpturen. Sie bedeuten mir viel.

Meine Tochter Anna Margolina kam mit mir zusammen nach Berlin, als sie acht Jahre alt war. Unsere Erfahrungen aus dieser Zeit hat sie in der Musik verarbeitet, die sie jetzt auf einem Album veröffentlicht. Sie hat die Familientradition übernommen – aber als Jazzsängerin einen eigenen Weg gefunden. Im Jazz entdecke ich für mich viel Neues. Das ist mir sehr wichtig, denn mich weiterzuentwickeln, ist die wahre Konstante in meinem Leben.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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