Kongress

Neue Bündnisse finden

Auf zu neuen Gemeinschaften, denn in die alten Strukturen gibt es kein Zurück mehr. Foto: Getty Images

Die Bilder und Berichte von Frauen, die am 7. Oktober 2023 von Hamas-Terroristen misshandelt wurden, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Weder das Video, in dem der entstellte Körper von Shani Louk in Gaza wie eine Kriegstrophäe bejubelt wird, noch die Aufnahme von Naama Levy, die in blutverschmierter Hose von Terroristen in ein Auto gezerrt wird.

Mittlerweile ist der 7. Oktober fast zwei Jahre her. Trotz aller Berichte der Überlebenden, der Beweise und sogar trotz der Video-Aufnahmen, die die Hamas-Terroristen selbst mit Bodycams aufgezeichnet haben, werden die Geschehnisse des Überfalls im Süden Israels vielerorts weiterhin infrage gestellt oder relativiert – selbst von Feministinnen. Zahlreiche feministische Gruppen und Bündnisse ließen nicht nur die betroffenen israelischen Frauen im Stich und erklärten die Täter zu Widerstandskämpfern und Helden, sondern wandten sich ebenfalls gegen jüdische und israelische Aktivistinnen in der Dias­pora.

Der desperateste Moment im feministischen Aktivismus seit sehr langer Zeit

Ein neuer Tiefpunkt war der diesjährige Community Dyke* March in Berlin: Die Organisatorinnen erklärten das Zeigen von Regenbogenflaggen mit Davidstern für unerwünscht. Sie begründeten es damit, dass die Flagge von anderen Teilnehmenden als Zeichen der Unterdrückung wahrgenommen würde. Es ist der desperateste Moment im feministischen Aktivismus seit sehr langer Zeit.

Israel wird zum alleinigen Aggressor erklärt.

Diese Ausschlüsse von Jüdinnen seit dem 7. Oktober sind jedoch nicht im luftleeren Raum entstanden. Neu sind lediglich die Intensität und Radikalität, mit denen offen antisemitische Positionen vertreten und zu feministischen Anliegen umgedeutet werden.

Prägende theoretische Paradigmen aus den 80er- und 90er-Jahren wie etwa das Konzept der Intersektionalität haben ursprünglich weder Jüdischsein als Identität noch Antisemitismus als Ideologie mitgedacht. Diese theoretischen Ansätze wurden in den vergangenen Jahrzehnten in die politische Praxis übersetzt. Eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus und seinen Funktionsweisen findet nur selten statt.

Neues Kernanliegen feministischer Bewegungen

Mittlerweile sorgen Slogans wie »Palestine is a Feminist Issue«, die eine direkte Verbindung von Palästina-Solidarität und Feminismus suggerieren, nur noch bei wenigen für Irritationen. Es scheint, als wäre Solidarität mit der palästinensischen Sache zum neuen Kernanliegen feministischer Bewegungen geworden. Gleichzeitig wird Israel zum alleinigen Aggressor erklärt. Mit dieser Dynamik und einfachen Antworten werden Massen mobilisiert. Diese Wirkung ist dem Antisemitismus inhärent: Er funktioniert als Erlösungsfantasie.

In dem Text eines feministischen Berliner Bündnisses wurde zur Unterstützung des »palästinensischen Widerstandes gegen den zionistischen Siedlerkolonialismus« aufgerufen. Daran anschließend hieß es: »Free Palestine ist ein Versprechen für uns alle«. Darin kulminiert die Vorstellung, dass nicht nur die Palästinenserinnen und Palästinenser, sondern sogar die ganze Welt von allem Schlechten und von jedem Widerspruch erlöst würde, wenn Israel erst einmal vom Erdball getilgt sei. Die Einseitigkeit zeigt sich auch in dem Ausbleiben einer Kritik an der Hamas und anderen Terrororganisationen.

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in feministischen Kreisen über viele Differenzen hinweg für bestimmte Grundsätze gekämpft und vieles auch durchsetzen können. Doch diese Grundsätze gelten offensichtlich nicht für alle: Die Reaktionen auf das Pogrom vom 7. Oktober gingen sogar so weit, dass Beweise für Vergewaltigungen gefordert wurden und teils sogar behauptet wurde, dass der Staat Israel sich die Taten ausgedacht hätte, um Krieg gegen die Palästinenserinnen und Palästinenser zu führen. Dabei handelt es sich um eine Täter-Opfer-Umkehr: Hier werden diejenigen, die auf dem Nova-Festival und in den grenznahen Städten und Kibbuzim überfallen wurden, zu Täterinnen und Tätern gemacht. Die Hamas gilt hier nur noch als kolonisiertes Opfer.

Theoretische Ansätze wurden in die politische Praxis übersetzt.

Ich beschäftige mich seit Jahren mit antisemitischen Argumentationen und Dynamiken in feministischen Bewegungen. Dass diese Täter-Opfer-Umkehr derart schnell gehen würde, hätte ich nicht für möglich gehalten. Die traurige Realität ist: Selbst wenn sich die Situation in Israel und Gaza beruhigen sollte und der Krieg endet, gibt es kein Zurück mehr. Zahlreiche feministische Gruppen und Bündnisse haben deutlich gemacht, dass sie Feminismus eben nicht universalistisch verstehen. In die bisherigen Bündnisse führt deshalb für mich kein Weg mehr zurück.

Ich bin als Speakerin beim Jewish Women* Empowerment Summit und möchte unter den Teilnehmenden für neue Allianzen werben. Für Allianzen, die auf Vertrauen bauen und sichere Räume auch für Jüdinnen sind. Ein Baustein auf diesem Weg ist, sich mit den Funktionsformen und Argumentationen des Antisemitismus zu beschäftigen. Wissen trägt dazu bei, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen und Vereinzelung zu überwinden. Das erscheint mir in dieser neuen Realität bitter notwendig.

Die Autorin ist Keynote-Sprecherin des von der Bildungsabteilung im Zentralrat und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden organisierten Kongresses. Stöver ist Antisemitismusforscherin, freie Journalistin und feministische Aktivistin. Ihre Beiträge erschienen in mehreren Zeitungen und Sammelbänden, zuletzt in »Judenhass Underground« (Hentrich & Hentrich 2023).

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