Gesellschaft

»Mein zweites Odessa«

Seit dem 24. Februar 2022 sind laut dem Bundesinnenministerium mehr als 1,2 Millionen ukrainische Geflüchtete nach Deutschland gekommen, knapp 30 Prozent von ihnen sind Kinder und Jugendliche. Auch die jüdischen Gemeinden in Deutschland haben viele von ihnen aufgenommen. Von Kyjiw, Odessa oder Charkiw aus kamen sie in Städte wie Rostock, Dresden oder Rottweil.

Olga (44), Daniil (19) und Elina (11) Nemchenko, Charkiw/Rottweil
Olga:
Wir haben uns allmählich eingelebt. Am Anfang war es schwer. Wir mussten die Sprache lernen, die bürokratischen Formalitäten klären, und natürlich hatten wir Sehnsucht nach unserem Zuhause. Als wir im Oktober 2022 in Deutschland eintrafen, kam uns Rottweil natürlich sehr klein vor, denn wir kommen aus Charkiw, einer Millionenstadt. Hier schien es mir, als gebe es keine Zukunftsperspektiven. Doch ich irrte mich. Rottweil ist eine sehr bunte, gemütliche, wenn auch kleine Stadt. Und sie schenkte mir ein neues Leben, neue Bekanntschaften und Freunde. Mittlerweile besitze ich ein kleines Nagelstudio und bin seit April 2023 offiziell als Einzelunternehmerin registriert. In der Ukraine habe ich ebenfalls als Maniküristin gearbeitet und zahlreiche Kurse absolviert. In Deutschland fand dieses Jahr in Kitzingen die Europameisterschaft statt. In der Disziplin Nageldesign habe ich den ersten Platz belegt.

Daniil: In Charkiw gab es in der Nähe unseres Hauses einen Pionierpalast, wo verschiedene Tanzstile unterrichtet wurden. Meine Mutter beschloss, mich in diesen Klub zu schicken. Ich war damals erst vier Jahre alt. Mein Trainer sagte, dass ich sehr gut für Rock ’n’ Roll geeignet sei. Früher war es nur ein Hobby. Aber mittlerweile habe ich verstanden, dass ich ohne Training und Wettkämpfe einfach nicht leben kann. In der Ukraine wollte ich an der Hochschule für Körperkultur und Sport studieren, um später Rock ’n’ Roll zu unterrichten, aber leider begann der Krieg. Als wir nach Deutschland kamen, habe ich als Erstes einen Tanzklub für akrobatischen Rock ’n’ Roll gesucht und gefunden. Dreimal pro Woche trainiere ich. Ich nehme an Wettbewerben teil und habe schon mehrmals den ersten Platz belegt. 2023 war ich außerdem bei der Jewrovision aktiv. Derzeit arbeite ich nebenbei als Tanztrainer in einer Tanzschule in Rottweil und werde dort im September eine Ausbildung beginnen.
Am Schabbat besuchen wir den Gottesdienst. Natürlich möchten wir zurück in die Ukraine, dort ist unser Zuhause. Aber wir verstehen sehr gut, dass es dort leider keine Zukunft gibt.

Elina: Rottweil gefällt mir sehr gut, es ist eine schöne Stadt. Ich besuche nun die Realschule. Ja, ich habe neue Freunde gefunden, sie kommen alle aus verschiedenen Ländern, die meisten sind Ukrainer, Russen, Türken, es gibt aber auch ein paar Mädchen aus Deutschland. Ich male sehr gern und besuche auch den Malunterricht in der Synagoge, wo ich viele Freunde gefunden habe. Ich vermisse mein Land und meine Lieblingsstadt sehr. Dort habe ich noch mein Zuhause und meine Freunde.

Angela Sidunova (40), Odessa/Dresden
Meine Kinder und ich haben hier die Möglichkeit bekommen, ein neues, stabiles Leben ohne Bedrohung zu führen, dafür bin ich dankbar. Deutschland ist ein sehr schönes und sicheres Land, das mir viel Vertrauen in eine gute Zukunft gibt. Die Gemeinde ist für uns zu einer echten Familie geworden. Ich beteilige mich an Projekten und nehme sogar an Theateraufführungen teil. Das gibt mir sehr viel Kraft. Außerdem organisiert die Gemeinde interessante Ausflüge für Kinder und Erwachsene, die uns Freude bereiten und uns die Möglichkeit geben, Zeit mit Gleichgesinnten zu verbringen. Ich habe das Gefühl, dass sie immer bereit sind, uns zu unterstützen, und uns bei allen Fragen helfen, bei denen Schwierigkeiten auftreten. Derzeit bin ich aktiv auf Arbeitssuche. Zuvor habe ich mich völlig darauf konzentriert, die deutsche Sprache zu erlernen. Mittlerweile habe ich ein Niveau erreicht, von dem ich mit Stolz sagen kann: Ich bin bereit, in einem deutschen Team zu arbeiten. Ich bin nun seit März 2022 in Deutschland.

Nur fünf Tage nach Beginn des Krieges haben meine Kinder und ich beschlossen, das Land so schnell wie möglich zu verlassen, denn die Situation war für uns lebensgefährlich. Ich komme aus Odessa, einer wunderschönen Stadt am Schwarzen Meer. Ich liebe meine Stadt wegen ihrer einzigartigen Architektur, ihrer Atmosphäre und natürlich wegen des Meeres. Dresden hat mich in vielerlei Hinsicht an Odessa erinnert, insbesondere durch sein Opernhaus und die freundlichen Menschen. Deshalb fühle ich mich hier fast schon wie zu Hause. Und ich werde auf jeden Fall eines Tages nach Odessa zurückkehren, aber als Touristin und nur in Friedenszeiten. Im Moment habe ich andere Aufgaben: für meine Kinder und mich die Zukunft zu sichern. Meine beiden Töchter besuchen das Gymnasium, bekommen gute Noten und haben bereits deutsche Freunde gefunden. Einige aus meiner Familie sind vor zehn Jahren nach Israel ausgewandert, und zwar nach Haifa. Leider herrscht dort ebenfalls Krieg. Meine Seele leidet also wegen der Situation in zwei Ländern, der Ukraine und Israel. Als wir im März 2022 wegzogen, überlegte ich, ebenfalls nach Israel zu gehen. Aber meine Mutter hielt mich davon ab. Natürlich würde ich mich sehr über Frieden freuen. Meine Haltung ist: Ich bin für Frieden auf der ganzen Welt. Krieg ist eine große Prüfung und bedeutet enormes Leid für die Menschen. Deshalb ist Frieden für alle genau das, wonach ich strebe und wovon ich wirklich träume.

Hanna Hiazova (61), Odessa/Dresden
Mein Leben in Deutschland ist wunderbar. Mit dem Wort »wunderbar« meine ich vor allem meine innere Ausgeglichenheit. Sie ist das Resultat meines Austauschs mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde und den mir nahestehenden Menschen – intellektuell, historisch und emotional.
Ich bin in Odessa, in der wohl jüdischsten Stadt der Ukraine geboren und aufgewachsen. Als Historikerin habe ich viele Jahre an der Jüdischen Universität dieser wunderschönen Hafenstadt unterrichtet, bin dort Mitglied bei Chabad gewesen und habe manche Monografie über die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Odessa geschrieben.Mein Mann, meine Katze (die wir aus Odessa mitgebracht haben) und ich leben in einem wunderschönen historischen Viertel Dresdens, in Laubegast, einer Kombination aus Jugendstilarchitektur und der Natur des Elbufers. Ich verstehe jetzt sehr gut den Unterschied zwischen einem Leben am Meer wie in Odessa und dem an einem Flussufer. Für eine Geschichtswissenschaftlerin ist das alles sehr interessant.
Der Neustart im Sommer 2022 fiel mir nicht schwer, da ich seit Jahren Kontakte zum Museum in Dresden und zu dieser Stadt habe, und sie geben mir sehr viel. Bereits vor 2022 pflegte ich Beziehungen im wissenschaftlichen und künstlerischen Rahmen, zu Museen und Galerien. Zweifellos war es aber psychologisch sehr schwierig, plötzlich woanders neu anzufangen. Doch es gab gute Voraussetzungen für dieses weitere Kapitel in meinen Leben – die jüdische Gemeinde und die KIW-Gesellschaft, ein Verein, der sich für die Integration hochqualifizierter russischsprachiger Migranten einsetzt. Beide haben mir sehr geholfen.

So bin ich in einer mir doch vertrauten und freundlichen Welt angekommen und habe hier mein »Odessa« gefunden, heimisch und warm, mit vielen kreativen Menschen.Und ich habe meinen Traumjob: Ich unterrichte an der Sonntagsschule der Jüdischen Gemeinde Dresden das Fach »Ästhetik der jüdischen Kunst«. Zudem organisiere ich Ausstellungen von Künstlern aus Odessa und arbeite als Kuratorin. In ganz Deutschland beteilige ich mich an wissenschaftlichen Konferenzen zum Thema Denkmalschutz. Dort spreche ich darüber, was ich »zukunftsweisende Retrospektive« nenne und halte Vorträge über Schutzmaßnahmen für den Neuen Jüdischen Friedhof in Dresden oder die Pflege der Gräber durch Mitglieder der Jüdischen Gemeinde.Ich reagiere sehr emotional auf den Tod von Menschen in Odessa, was ganz natürlich ist – aber auch auf den Verlust von historisch Wertvollem in meiner Heimatstadt. Und ich unternehme alles, was ich kann, um die Gemälde und Grafiken zeitgenössischer Künstler aus Odessa zu bewahren, indem ich ihre Werke nicht nur rette, sondern auch in Deutschland ausstelle. Mein Ziel ist es, diese Artefakte zu schützen.

Oleksandra Kleiman (26), Kyjiw/Dresden
Der Umzug nach Deutschland war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Ich bin froh, dass ich jetzt in Sicherheit leben kann. Und ich bin dankbar, dass ich in Dresden gelandet bin. Ich mag die Schlösser, die Natur und Sauberkeit dieser wunderbaren Stadt.

In den vergangenen drei Jahren habe ich gleichzeitig zwei Sprachen gelernt: Deutsch und Spanisch. Jetzt habe ich alles, was ich für ein gutes und sicheres Lebensgefühl brauche: einen geliebten Menschen, die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, also Sprachen zu lernen und zu verbessern, ein gemütliches Zuhause, einen Hund und Freunde.
Der Start in Deutschland im Frühjahr 2022 war nicht einfach. Meine Großmutter, die mit mir kam, war sehr krank und hat die Evakuierung nur knapp überlebt. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass sie ihre letzte Zeit nicht zu Hause verbringen würde. Auch der Angriff Russlands auf die Ukraine war für sie ein großer Schock. Glücklicherweise wurden die letzten zweieinhalb Jahre ihres Lebens dank der Hilfe der jüdischen Gemeinde bei ihrer Unterbringung in ein gutes Seniorenheim noch einmal richtig schön. Die Gemeinde half uns von Anfang an, bürokratische Angelegenheiten zu erledigen und stellte mir sogar ein Zimmer zur Verfügung. Später unterstützte sie mich bei der Beerdigung meiner Großmutter.

In den vergangenen Monaten habe ich häufig spanischsprachige Menschen zu verschiedenen Terminen in Dresdner Einrichtungen begleitet, manchmal auch ukrainisch- oder russischsprachige.
Kyjiw und die Ukraine sind für immer in meinem Herzen. Freunde und Verwandte von mir leben noch dort. Natürlich würde ich sehr gern für ein paar Wochen in meine Heimat reisen und hoffe auf ein baldiges Ende des Krieges.

Maxim Feldman (37), Odessa/Rostock
Ich war früher bereits einige Male in Deutschland, um meinen Vater zu besuchen, der hier seit 2004 lebt. Bei einem weiteren Besuch 2022 schließlich beschloss ich zu bleiben. Im Großen und Ganzen passe ich mich ziemlich schnell an jede Situation an, weshalb es relativ einfach war, mich hier einzuleben.

Als Jude ist es mir wichtig, die Verbindung zum Judentum aufrechtzuerhalten und mich in einer Umgebung aufzuhalten, die mir nahesteht. In Rostock gibt es wundervolle Menschen und eine großartige jüdische Gemeinde. Dort habe ich Halt und Freunde gefunden, was wichtig ist, besonders am Anfang eines neuen Lebens.

Die Gemeinde hat mir mit Dokumenten und Ratschlägen sehr geholfen und mich bei der Wohnungssuche unterstützt. Ich bin Ingenieur für Computersysteme, habe also einen technischen Beruf erlernt. Derzeit suche ich eine Umschulung im IT-Bereich und arbeite im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes (BFD) in unserer Jüdischen Gemeinde. Mein Vertrag endet bald, und ich werde weiter lernen, um ein in Deutschland anerkanntes Diplom zu erhalten und dann in diesem Beruf zu arbeiten. Viele meiner Freunde und Verwandten sind in der Ukraine geblieben. Die Sorgen um meine Heimat beschäftigen mich natürlich. Ich glaube, solange ich in Deutschland bin, muss ich alle Anstrengungen unternehmen, um hier ein erfolgreiches Leben aufzubauen. Die Sehnsucht nach meinem Zuhause wird aber immer da sein, und das ist völlig normal. Manchmal werde ich nostalgisch. Eine Rückkehr in meine Heimat, um dort dauerhaft zu leben, ist derzeit keine Option. Aber ich würde gern zumindest für eine Woche an den Ort zurückkehren, wo ich aufgewachsen bin.

Einige meiner Verwandten, die an der Front waren, kamen mit Verletzungen zurück, und leider gibt es auch jene, die nicht mehr zurückkehren werden. Es ist sehr schwer, darüber zu sprechen, wenn man 2500 Kilometer vom Krieg entfernt ist und über dieses Thema nachdenkt. Der Krieg ist eine Katastrophe. In meinen beiden »Heimaten« – der Ukraine und Israel, wo ich auch einige Zeit gelebt habe – herrscht Krieg. Und meine Freunde in beiden Ländern sind an der Front. Im Moment kann ich mir Frieden in naher Zukunft nicht vorstellen, aber ich würde mir sehr wünschen, dass ich mich so schnell wie möglich mit dieser Frage beschäftigen kann.

Evgeny Sidunov (65), Odessa/Dresden
Der Start in Deutschland war für mich beängstigend, aber dann haben sich meine Sorgen gelegt. Mir gefällt es hier, es gibt viele freundliche, anständige und hilfsbereite Menschen. Die Gemeinde hat uns sehr geholfen, sowohl beim Deutschlernen als auch bei der Arbeitssuche. Kommunikation ist sehr wichtig. Verschiedene Aktivitäten sind für Erwachsene und Kinder nützlich. Die Ausflüge, die die Gemeinde anbietet, sind sehr interessant. Mittlerweile habe ich eine Arbeit, die mir vom Jüdischen Kulturzentrum vermittelt wurde.

Jeder Krieg ist ein großes Unglück. Und ich leide wie jeder normale Mensch schmerzenden Herzens mit denen, die dort geblieben sind. Ich möchte nicht zurückkehren, denn hier gibt es eine Gemeinschaft von kulturell interessierten und wohlwollenden Menschen. Außerdem sind alle meine Verwandten und Freunde hier. Meine Mutter, meine Schwester mit ihrer Familie und die Verwandten ihres Mannes leben derzeit in München.

Ich habe Schwierigkeiten, meine jüdische Herkunft nachzuweisen, da meine Dokumente während der übereilten Flucht aufgrund des Kriegsausbruchs verloren gegangen sind. Aber ich hoffe auf das Verständnis und die Hilfe der deutschen Behörden. Ich möchte hierbleiben. Meine Kinder, Enkelkinder und ich haben uns gut integriert. Einige arbeiten, andere besuchen das Gymnasium. Jeder hat bereits Pläne für seine Zukunft.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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