Paul-Spiegel-Preis

»Lasst uns mutig sein!«

»Es geht um unser Land«: Josef Schuster beim Festakt in der Synagoge der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf Foto: Alexandra Roth

Paul-Spiegel-Preis

»Lasst uns mutig sein!«

Auszüge aus der Rede von Zentralratspräsident Josef Schuster

 25.05.2016 09:47 Uhr

In diesen Tagen jährt sich der Todestag des früheren Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel sel. A., zum zehnten Mal. Es tut gut, solche Tage im Kreis von Menschen zu verbringen, die mit dem Verstorbenen eng verbunden waren. Und es ist gut, an einen Menschen zu erinnern, der mit seinem Mut und Engagement und mit seiner Warmherzigkeit für uns alle bis heute ein Vorbild ist.

Der zehnte Todestag von Paul Spiegel sel. A. war für mich – wie vermutlich für die meisten von Ihnen – Anlass, noch einmal vertieft darüber nachzudenken, welche Bedeutung Paul Spiegel für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland hatte.

Und dabei wurde mir zuallererst bewusst, welch schmerzliche Lücke er hinterlassen hat. Ich erinnere mich, als ich im Jahr 2000 ganz neu war im Präsidium des Zentralrats und etwas unsicher, wie ich mich nun in diesem Kreis verhalten sollte. Paul Spiegel nahm mir diese Unsicherheit sofort.

Begegnungen An allen seinen beruflichen Stationen, ob mit seiner Künstleragentur, bei der Jüdischen Allgemeinen oder bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden und natürlich als Präsident des Zentralrats der Juden, gewann Paul Spiegel sehr schnell das Vertrauen der Menschen. Er begegnete jedem auf Augenhöhe. Und er hatte auch genug Offenheit, sich andere Meinungen anzuhören und – wenn nötig – die eigene Meinung zu revidieren. Ich habe sehr viel von Paul Spiegel gelernt und bin sehr froh, dass ich ein Stück Weg mit ihm gehen durfte. Viele von Ihnen hier im Saal könnten ähnliche Erinnerungen erzählen.

Das Wirken von Paul Spiegel ging jedoch weit über die Menschen, denen er persönlich begegnete, hinaus. Sein politisches und gesellschaftliches Engagement wurde in der ganzen Gesellschaft wahrgenommen. Nach dem Krieg hatte sich Paul Spiegel entschieden, trotz der Schoa in Deutschland zu bleiben. Dieser Entschluss spiegelt das Vertrauen und den Optimismus wider, der ihm eigen war. Zugleich bedeutete dieser Entschluss für ihn aber auch, stets wachsam zu bleiben. Und immer, wenn es ihm notwendig erschien, erhob er laut und deutlich seine Stimme gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus. Zivilcourage war ihm ein Herzensanliegen.

Anschlag In den 1990er-Jahren wurde sein Vertrauen in dieses Land auf eine harte Probe gestellt: Wie wir alle wurde er Zeuge von rechtsextremen und ausländerfeindlichen Ausschreitungen. Wir erlebten einen wütenden Mob und aufgestachelte Bürger. 1999 hetzten rechtsextreme Jugendliche in Guben mehrere Ausländer durch die Stadt. Zwei der Gejagten kamen dabei ums Leben. Und schließlich im Jahr 2000 der Brandanschlag auf diese Synagoge hier, verübt – wie sich später herausstellte – von zwei arabischen jungen Männern.

Das Vertrauen von Paul Spiegel war tief erschüttert. Seine Worte rüttelten alle auf: »Was muss noch geschehen, bis wir uns die Frage stellen, ob es richtig war, in dieses Land zurückzukehren?«

Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder entschloss sich gemeinsam mit Paul Spiegel zum »Aufstand der Anständigen«. Bei dieser großen Demonstration in Berlin hielt Paul Spiegel eine Rede, die wir aus heutiger Sicht mit Fug und Recht als historisch bezeichnen können. Er verwies darauf, dass wir »uns bereits mittendrin im Kampf gegen Rechts« befinden.

diskriminierung Er gestand aber auch zu, dass nicht jeder das Zeug zum Helden hat und sich einem Skinhead entgegenstellt. Aber, so sagte Paul Spiegel damals: »Jeder von uns ist in der Lage, bereits im Kleinen einzuschreiten, in seinem Lebensumfeld.« Paul Spiegel meinte abfällige Witze am Stammtisch, Diskriminierung am Arbeitsplatz oder Vorurteile, denen wir im Freundeskreis begegnen.

Es sind Situationen wie diese: »Was war das denn für ein schwuler Pass?«, schreit unser Mannschaftskapitän einem Mitspieler zu. Oder: »Die NPD möchten deinen Jugendclub mit 500 Euro unterstützen. Wie reagierst du?« Oder: »Einem jungen Mädchen wird das Kopftuch vom Kopf gerissen. Schreitest du ein?« Diese Alltagssituationen habe ich mir nicht selbst ausgedacht. Sie stammen aus einem Lernspiel, dass zum Beispiel Lehrer für ihre Klassen kostenlos bestellen können – beim Verein »Gesicht Zeigen!«.

Sie, lieber Herr Heye, setzten sich im Jahr 2000 unter dem Eindruck der zahlreichen rechtsextremen Anschläge mit Paul Spiegel und unserem damaligen Vizepräsidenten Michel Friedman zusammen. Ihnen allen war damals klar, dass eine einmalige Kundgebung sehr wichtig ist als politisches Symbol. Aber Ihnen war auch klar, dass das nicht ausreicht. Es braucht beharrliche, kontinuierliche Arbeit an der Basis, um Rechtsextremismus nachhaltig zu bekämpfen.

Engagement Sie gründeten den Verein »Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland«. Mit viel Engagement und Kreativität entwickelt seit damals der Verein immer neue Formen, um vor allem junge Menschen stark zu machen gegen Antisemitismus und Rassismus, gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit.

Und genau solche Alltagssituationen, wie ich sie eben aus dem Lernspiel vorgetragen habe, sind es doch, denen wir alle dauernd begegnen. Und haben wir dann den Mut, den Mund aufzumachen? Sind wir bereit, den unbequemen Weg zu gehen? Sind wir Vorbilder für junge Menschen? Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, werden die meisten von uns diese Fragen nicht rundum bejahen können.

Daher ist es umso wichtiger, die Menschen, die sich trauen, herauszustellen. Ihr Handeln zu würdigen. Wir tun dies regelmäßig mit dem Paul-Spiegel-Preis, der genau im Sinne des Namensgebers ist. Alle Preisträger eint, dass sie seit Jahren gegen Rechtsextremisten vorgehen – häufig auch unter hohem persönlichem Risiko. Ich darf Ihnen unseren tiefen Respekt bekunden und danke Ihnen sehr für Ihr unermüdliches Engagement! Wir brauchen das heute mehr denn je!

In seinem Nachruf auf Paul Spiegel beschrieb Uwe-Karsten Heye die Gründung des Vereins »Gesicht Zeigen!«. Es sei ihnen darum gegangen, »Verantwortung zu übernehmen für den zivilen Widerstand gegen die Wiedergänger der braunen Totengräber«. Er habe damals Paul Spiegel Mut machen wollen. »Er könne sich darauf verlassen, dass die Juden in Deutschland nicht mehr allein gelassen seien.«

Versprechen Dieses großartige Versprechen haben Herr Heye und seine Mitstreiter bis heute eingehalten. Mit großen Kampagnen sensibilisiert der Verein regelmäßig die breite Öffentlichkeit für Themen wie Ausländerfeindlichkeit oder Rassismus. Und viele, viele kleinere Initiativen gegen Rechtsextremismus, die wir so dringend brauchen, werden von dem Verein unterstützt. Hinzu kommt eine vorbildliche pädagogische Arbeit in Schulen und durch Ausstellungen oder Theaterprojekte mit jungen Menschen.

Die Motivation des Vereins beschrieb der Vorsitzende in der Gründungspressekonferenz im August 2000 so: »›Gesicht Zeigen!‹ will erreichen, dass Rechtsextremisten, Gewalttäter und Kleingeister, die sich mancherorts für stark halten, endlich begreifen, dass sie gegen die übergroße Mehrheit agieren.«

Fremdenfeindlichkeit Und Paul Spiegel sagte im November 2000 beim »Aufstand der Anständigen«: »Wir dürfen bei der Bekämpfung von Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nicht innehalten. Denn es geht nicht allein um uns Juden, um Türken, um Schwarze, um Obdachlose, um Schwule. Es geht um dieses Land, es geht um die Zukunft jedes einzelnen Menschen in diesem Land.« Diese Sätze haben an Aktualität nichts verloren! Sie könnten auch in diesem Jahr gefallen sein!

Die politische Gemengelage ist durch den Islamismus und die terroristische Bedrohung noch schwieriger geworden als vor 16 Jahren. Wir müssen uns heute nicht nur mit Rechtsextremen, mit Rechtspopulisten und Ausländerfeinden auseinandersetzen, sondern hinzu kommt noch eine ausgeprägte Islamfeindlichkeit, die sich bis in bürgerliche Kreise hinein findet.

Wertegemeinschaft Der Appell von Paul Spiegel bleibt gültig: Es geht nicht allein um Juden und Muslime oder um Flüchtlinge – es geht um unser Land. Es geht um die Frage, wie wir die Errungenschaften unserer westlichen Demokratie und Wertegemeinschaft schützen und im 21. Jahrhundert erhalten. Im vergangenen Jahr gab es mehr als 1000 Überfälle auf Flüchtlingsunterkünfte. Das war eine Verfünffachung gegenüber dem Jahr zuvor. Nur ein Bruchteil der rechtsextremen und ausländerfeindlichen Taten wird aufgeklärt.

Wir sind zudem mit einer immer größeren Gewaltbereitschaft unter den Rechtsradikalen und einer besseren Vernetzung konfrontiert. Noch immer läuft der Prozess gegen Beate Zschäpe. Noch immer befassen sich Untersuchungsausschüsse mit dem NSU, um die kriminellen Strukturen dieser rechten Terrorgruppe aufzudecken. Und gerade erst sind im sächsischen Freital offenbar Rechtsterroristen festgenommen worden.

Und wir sind heute mit technischen Möglichkeiten konfrontiert, die es sehr leicht machen, Menschen aufzuhetzen oder in kürzester Zeit zu Protest-Aufmärschen zusammenzurufen. Und gerade haben erst die Hacker-Angriffe auf Universitäten, bei denen plötzlich antisemitische Pamphlete aus den Druckern kamen, uns gezeigt, wie perfide heutzutage die Methoden der Rechtsextremen sind.

toleranz
Viele dieser Entwicklungen konnte Paul Spiegel noch gar nicht erahnen. Aber er wusste: Wenn wir den Kampf gegen Hass und Gewalt nicht aufnehmen, haben wir schon verloren. Und in diesem Sinne arbeitet der Verein »Gesicht Zeigen!« seit seiner Gründung. Der Verein hat sich in all den Jahren nicht entmutigen lassen. Im Gegenteil: Er hat vielen Menschen Mut gemacht, sich für ein tolerantes, weltoffenes und friedliches Deutschland einzusetzen.

Dafür gebührt dem Vorstand des Vereins, den Unterstützern und den vielen ehrenamtlichen Mitarbeitern unser aller Respekt und unser tiefer Dank! Den Paul-Spiegel-Preis für Zivilcourage 2016 haben Sie wahrhaft verdient!

Nehmen wir uns alle unseren diesjährigen Preisträger ebenso zum Vorbild wie die Preisträger der vergangenen Jahre: Lasst uns mutig sein! Damit wir einschreiten, wenn ein Schwarzer in der Bahn angepöbelt wird. Damit wir den Mund aufmachen, wenn Juden- oder Schwulenwitze erzählt werden. Damit wir uns wehren gegen Hasskommentare auf Facebook.

Denn es geht um unser Land. Um alle Menschen, die in unserem Land leben. Egal, woher ihre Vorfahren stammen. Egal, welcher Religion sie angehören. Nicht die Würde des Deutschen ist unantastbar. Die Würde aller Menschen ist unantastbar. Das ist unser Maßstab. Danach handeln wir.

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