Potsdam

Jenseits der Klischees

Auf dem Podium: Marina Chernivsky, Felix Klein, Katharina Schmidt-Hirschfelder, Peter Schüler, Diana Sandler (v.l.); die Gesprächsrunden wurden in Gebärdensprache übersetzt (u.) Foto: screenshot

Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Im Jahr 321 erließ Kaiser Konstantin das sogenannte Kölner Edikt, das Juden nördlich der Alpen den Zugang zu öffentlichen Ämtern gestattete und das erste schriftliche Zeugnis einer jüdischen Existenz in Deutschland überhaupt ist. 1700 Jahre deutsch-jüdische Gesichte – dieses Jubiläum soll 2021 vielerorts in den Gemeinden mit Ausstellungen, Tagungen und Festen begangen werden.

»Jüdisches Leben in Deutschland ist also keine Besonderheit, sondern eine Selbstverständlichkeit«, sagt Mathias Paselk, Geschäftsführer des Waschhauses Potsdam, dem Austragungsort des Regionalforums »Antisemitismus in Deutschland«, das vom Verein Deutsche Gesellschaft in Partnerschaft mit der Jüdischen Allgemeinen, dem Zentralrat der Juden in Deutschland sowie weiteren Akteuren der Zivilgesellschaft auf die Beine gestellt wurde.

Vielfalt »Gleichwohl gilt es, den Fokus auf die aktuellen Wirklichkeiten von Jüdinnen und Juden zu richten, weil die Wahrnehmungen zumeist klischeebehaftet erscheinen und allzu oft nur in Verbindung mit dem Antisemitismus und der Schoa stehen«, hebt die Moderatorin Katharina Schmidt-Hirschfelder, Redakteurin der Jüdischen Allgemeinen, hervor. »Dabei ist jüdisches Leben in Deutschland bunt und vielfältig.«

Ob dies allein ausreicht, um auch von einer neuen jüdischen Renaissance hierzulande zu sprechen, dieser Frage ging man in einem ersten Podiumsgespräch tiefer auf den Grund. »Ein deutsches Judentum, wie wir es von früher kennen, existiert schon lange nicht mehr«, schätzt der Historiker und Politikwissenschaftler Julius Schoeps ein. Trotzdem zeigt er sich optimistisch. Grund dafür ist die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen So­wjetunion. »Es scheint etwas völlig anderes daraus hervorgegangen zu sein«, so der Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums Potsdam. »Vielleicht kann man bald von einem neuen deutschen Judentum sprechen.«

Das Selbstverständnis von Juden in Deutschland hat sich verändert.
»Das Selbstverständnis der Juden, die in Deutschland leben, hat sich auf jeden Fall verändert«, ist auch die Beobachtung von Marat Schlafstein. »Mittlerweile ist eine neue Generation hier herangewachsen und lebt dieses in all seiner Diversität«, sagt der Leiter des Referats Jugend und Gemeinden des Zentralrats in einem weiteren Panel mit dem Arbeitstitel »Jung, Jüdisch, Vielfältig: Zu Hause in Deutschland«.

Chancen »Das hat viel dazu beigetragen, dass die sprichwörtlichen Koffer längst ausgepackt sind.« Genau deshalb wolle man sich nicht auf die Koordinaten reduzieren lassen, die negativ assoziiert werden, sagt Monty Ott. Der Vorsitzende von Keshet Deutschland ist überzeugt: »Wir leben heute in einer Gesellschaft, die deutlich mehr Chancen für eine Vielfalt bietet als früher.« Zugleich werfe dies aber auch die Frage auf, was es heißt, deutsch zu sein. Denn die Anknüpfungspunkte dafür würden längst nicht mehr allein über Religion oder Herkunft definiert.

Den Teilnehmern ging es darum, wie man sich an gesellschaftlichen Prozessen beteiligen kann.

Allen Teilnehmern ging es weniger darum, ob man sich als Juden an gesellschaftlichen Prozessen beteiligt, sondern vielmehr darum, wie dies geschehe. »Schließlich fühle ich mich als Teil der deutschen Gesellschaft«, betont Tirzah Maor. »Nur eben mit einem jüdischen Hintergrund, der für mich persönlich einen hohen Stellenwert besitzt«, erklärt die ehrenamtliche Mitarbeiterin bei »Meet a Jew«.

Im Rahmen dieser Initiative des Zentralrats gehen Freiwillige in Schulen, Universitäten oder Sportvereine, um durch Begegnungen mit Gleichaltrigen Vorbehalte gegenüber Juden abzubauen. »Manche Schüler oder Studenten haben so das erste Mal überhaupt einen Juden zu Gesicht bekommen«, berichtet sie.

Gemeinsamkeiten »Auf diese Weise lassen sich Gemeinsamkeiten entdecken«, skizziert Schlafstein, Projektleiter dieses Formats, die Motivation dahinter. Das sei zwar kein Allheilmittel, aber die Resonanz auf das Angebot sei gewaltig. »Mancherorts wurden wir mehr als einmal eingeladen«, berichtet Schlafstein.

Voraussetzung für eine aktive Teilhabe ist die Stärkung einer jüdischen Identität.

Voraussetzung für eine solche aktive Teilhabe ist ebenfalls die Stärkung einer jüdischen Identität. »Nicht alle jungen Juden wachsen in einer Metropole wie Berlin oder München auf«, weiß Nachumi Rosenblatt, Leiter des Kinder-, Jugend- und Familienreferats der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). »Und da kommen unsere Machanot ins Spiel. Für viele Jugendliche aus kleineren Orten war es eine enorm wichtige Erfahrung, wenn sie zwei Wochen lang in einer Umgebung verbringen können, in der das Jüdischsein absolute Normalität ist.«

Dass diese Normalität zunehmend in Gefahr gerät, darüber diskutierte man in einem dritten Podiumsgespräch. »Ein Anschlag wie der in Halle war leider vorhersehbar«, glaubt Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, angesichts der langen Liste von antisemitischen Gewalttaten aus den vergangenen 50 Jahren. »Uns aber hat diese Dimension überrascht«, so Klein. »Die Tatsache, dass es sich um einen Einzeltäter handelte, beweist, wie sich Menschen mithilfe des Internets radikalisieren können.«

OFEK Die Ideologien, die hinter einer solchen Tat stecken, lassen sich nicht einfach aus der Welt schaffen, sagt dazu Marina Chernivsky vom Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment/Beratungsstelle OFEK. »Wohl aber hätten die tödlichen Folgen verhindert werden können.« Denn sie hält den Schutz für Juden und jüdische Einrichtungen hierzulande für geradezu skandalös defizitär.

Der Täter von Halle wollte drohen: »Ihr Juden seid nirgendwo sicher.«
»Es geht dabei nicht um das Gefühl einer Bedrohung, sondern um die ganz reale Tatsache der Bedrohung.« Der Täter von Halle handelte ihrer Einschätzung zufolge aus Überzeugung und wollte eine klare Botschaft übermitteln, und zwar: »Ihr Juden seid nirgendwo sicher.« Auch geht es nicht nur allein um Mord und Totschlag. »Solche Anschläge sind nur die Spitze eines Eisbergs«, so Chernivsky über die allgegenwärtigen Ressentiments. »Darunter verbergen sich noch weitere Schichten. Da muss man genauer hinschauen.«

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