Porträt der Woche

»Jeder hat seine Identität«

»Ich hatte immer das Gefühl, an keinen Ort so richtig zu passen«: Yael Sherill (33) lebt in Berlin. Foto: Gregor Zielke

Porträt der Woche

»Jeder hat seine Identität«

Yael Sherill ist Kuratorin und plädiert dafür, Judentum individuell zu leben

von Philipp Fritz  12.12.2016 18:13 Uhr

Ich komme aus Israel. Vor nunmehr schon fünf Jahren bin ich nach Berlin gezogen. Ob ich mich hier zu Hause fühle oder als Berlinerin, weiß ich nicht. Wer ist denn schon eine Berlinerin? Ich finde, Fragen nach einem Zuhause oder danach, was Heimat ist, sind kompliziert. Ein Heimatgefühl kann sich von einem Tag auf den anderen verändern. Manchmal fühle ich mich zu Hause und dann auf einmal wie eine Fremde, und ich frage mich: Wie bin ich bloß hier gelandet?

Mein erster Tag in Berlin war komisch. Ich bin damals bei einem Freund untergekommen. Die Sonne schien durch das Fenster, der Sommer neigte sich dem Ende zu, wir gingen nach draußen und machten einen Spaziergang in der Nähe des Tempelhofer Feldes. Der Geruch von Kuchen lag in der Luft, es war der Tag des jüdischen Neujahrsfestes. Die Gesichter auf der Straße gaben mir ein vertrautes Gefühl – und das, obwohl ich niemanden kannte. Das war das erste Mal, dass ich mich überhaupt irgendwo zu Hause fühlte.

Berlin Ich bin in Tel Aviv aufgewachsen, meine Eltern leben immer noch in dem Haus, das ich als Kind kannte. Dort habe ich dieses Gefühl nicht. Ich glaube, dass ich jenes Erlebnis in Berlin hatte, liegt daran, dass viele Menschen hier nicht wirklich Berliner sind und kaum jemand sich herausnimmt, diesen Ort exklusiv für sich als seinen zu beanspruchen.

In Israel ist das anders. Ich nenne es mal »Ownership«, also Besitzrecht von Identität und dem Ort, dem Land. Das ist eine wichtige Sache in Israel. Die meisten Israelis sind zwar auch irgendwie Migranten, aber die Mehrheit sind Juden – das unterscheidet die israelische von der deutschen Einwanderergesellschaft. Hier leben Spanier, Italiener, Mexikaner und Israelis zusammen, und es ist in Ordnung.

Ich möchte nicht generalisieren, das ist mein persönliches Empfinden. Es kommt natürlich immer auf die Perspektive an und auf die Menschen, mit denen du Zeit verbringst. Ich bin erst fünf Jahre in Berlin und kenne die Stadt noch nicht so gut. Aber ich mag es hier.

idf Man könnte sagen, dass ich zufällig in Berlin gelandet bin. Vor sechs Jahren bin ich erst einmal von Israel nach London gezogen: Ich habe meinen Masterabschluss gemacht, und mein Visum lief aus. Zwar war ich schon für ein Doktorandenprogramm in Leeds angenommen, aber ich wollte nicht mehr in England leben. Freunde von mir waren bereits in Berlin, und ich habe mich erkundigt, ob ich nicht auch hier promovieren könne. Dann bin ich hierhergezogen.

Nach meinem zweijährigen Armeedienst wollte ich weg aus Israel. Ich hatte Zweifel, ob ich überhaupt zur Armee gehen soll. Ich war damals 18 Jahre alt, heute bin ich 33. Ich hätte sagen können, ich sei Pazifistin, oder so tun können, als wäre ich verrückt. Aber ich wollte später nicht in eine Situation kommen, in der ich von Gesprächspartnern nicht ernst genommen werde, weil ich nicht in der IDF war. Ich war sogar im Kampfeinsatz, als Sanitäterin in einer Artillerieeinheit. Ich war in den palästinensischen Gebieten im Einsatz und in der Nähe des Gazastreifens. Ich weiß, wie der Dienst ist, und lasse mir nun von niemandem mehr etwas sagen!

Meinen Bachelor-Abschluss – Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Jerusalem und Tel Aviv – habe ich noch in Israel gemacht. In London habe ich dann ein Performance-Studium rangehängt. Heute bin ich Kuratorin und betreue Kunst- und Performance-Projekte mit meiner Plattform-B-Tour. Meine Arbeit dreht sich vor allem um Kunst im öffentlichen Raum. Angefangen habe ich auf Festivals. Wir zeigten Kunst in einem speziellen Format: »Guided Tours«.

U-Bahn Es geht mir darum, aus Kunst etwas Erlebbares im öffentlichen Raum zu machen, und dafür entwickle ich Konzepte. Ich arbeite nicht nur in Berlin, wie zuletzt während des Festivals »48 Stunden Neukölln« zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung, wir waren auch schon in Belgrad in Serbien oder in Leipzig. Jetzt stehen Aufträge in Litauen und in Dänemark an.

Für das Jahr 2017 wollen wir auch etwas in Israel umsetzen.
Performance ist kein klar definierbarer Begriff. Um ein Beispiel zu geben: Als wir angefangen haben, mit unserer Plattform zu arbeiten, haben wir in Berlin ein Projekt mit dem Namen »Urban Antigone« betreut.

Wir haben die ersten fünf Szenen des Klassikers von Sophokles in der U-Bahn – in den Stationen und den Waggons selbst – aufgeführt. Das Ganze wurde dann auch in Stockholm gemacht. Dort allerdings kam noch eine weitere Figur hinzu, die als Guide eingesetzt war. Danach habe ich mit der deutschen Theatergruppe Rimini Protokoll zusammengearbeitet. Das war aufregend für mich.

bukarest Dass ich jüdisch bin, spielt bei meiner Arbeit keine große Rolle. Ich bin nicht religiös, aber kulturell bin ich jüdisch. Ich bin auch in keinem religiösen Haushalt aufgewachsen, aber ich sehe – und das ist interessant –, dass meine Eltern, je älter sie werden, sich immer stärker ihrem Glauben nähern. Meine Mutter sagt heute Sachen, die sie vor einigen Jahren so nicht gesagt hätte.

Meine Eltern stammen aus Rumänien, 1970 kamen sie nach Israel. Ich gehöre zur ersten Generation derer in meiner Familie, die in Israel geboren sind. Vor vier Jahren war ich das erste Mal in Rumänien, in Bukarest. Es war verrückt.

Ich spreche Rumänisch, habe also schon eine gewisse Vertrautheit mit der Kultur, aber was passiert ist, als wir nach unserer Ankunft in ein Restaurant gegangen sind, vergesse ich niemals. Das Essen schmeckte nicht etwa so ähnlich, sondern genauso wie das Essen, mit dem ich aufgewachsen bin!

Ich kann es bis heute nicht fassen. Alles war so vertraut. Ich dachte schon, ich sei schizophren oder hätte ein zweites Ich, das immer schon ein Leben in Bukarest geführt hat. Ich bin eben irgendwie auch rumänisch, das habe ich spätestens vor vier Jahren begriffen.

kultur Ich hatte immer das Gefühl, an keinen Ort so richtig zu passen. Ich glaube, das liegt daran, dass meine Eltern Migranten sind. Meine engsten Freunde in Israel sind wie ich Kinder von Einwanderern. Es ist nicht so, dass ich mich mit den anderen nicht verstehen würde, aber es gibt da so eine unsichtbare Wand.

In Israel ist es selbstverständlicher, jüdisch zu sein, als in Berlin. Aber hier kommen die Menschen von überall her und schaffen so eine andere, besondere Mischung.

Wie gesagt, sehe ich mich als kulturell jüdisch. Auf eine gewisse Art knüpfe ich so an eine Tradition an, die in Berlin schon vor langer Zeit begründet wurde: hebräische Kultur. Es gibt heute wieder viele Menschen in Berlin, vor allem Israelis, die ihre Kultur mit diesem Wort belegen – auch, weil sie sich in Israel nicht richtig wohlgefühlt haben.

Zu hebräischer Kultur gehört für mich die Sprache. Modernes Hebräisch ist nicht exklusiv mit Israel verbunden, sondern eben auch mit der Diaspora.

Erbe Grundsätzlich sind Fragen von Kultur und Identität kompliziert. Ich glaube, jeder setzt sich seine eigene Identität aus bestimmten Puzzleteilen zusammen. Das Erbe, das jeder hat, spielt da eine Rolle. Meine Großmutter zum Beispiel hat Fleisch noch »koscher gemacht«: Sie hat Schweinefleisch in Salz gelegt, um ihm das Blut zu entziehen. Das muss man sich einmal vorstellen! Die Methode stimmte, aber Schweinefleisch? Das war eine Tradition in meiner Familie, eine Kulturmischung sozusagen.

Als ich geheiratet habe, habe ich mich dafür entschieden, eine andere Tradition aus meiner Familie zu begehen: Ich bin siebenmal um meinen Mann herumgelaufen. Das hat meine Mutter während ihrer Hochzeit getan, meine Großmutter auch. Das soll an die Mauern von Jericho erinnern, die gefallen sind, so wie die Mauern zwischen den Eheleuten fallen sollen. Ich finde, das ist ein schönes Bild.

Hier in Berlin habe ich schon einige Male Pessach gefeiert – mit jüdischen und nichtjüdischen Freunden. Der Text, den wir dazu gelesen haben, war jedoch ein Kibbuz-Text. Er steht für mich für universelle Werte wie Freiheit.

Auch hier leben wir unsere eigene jüdische Tradition. Das meine ich: Jeder zieht aus seiner Geschichte etwas und hat dann seine eigene Kultur. Das versuche ich, in meinem Alltag in Berlin zu tun.

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