Porträt der Woche

Im Land der Ahnen

»Jedes Mal eine Herausforderung«: Jordan Selig (24) kocht nach Großmutters Rezepten. Foto: Gregor Zielke

Porträt der Woche

Im Land der Ahnen

Jordan Selig kommt aus Seattle. Sie vermietet Wohnungen in Berlin und kocht gern

von Urs Kind  21.02.2012 09:32 Uhr

Warum ich nach Berlin gekommen bin, kann ich eigentlich gar nicht genau sagen. Ich will auch nicht für immer hier bleiben. Dafür bin ich viel zu neugierig und begebe mich immer wieder in neue Situationen mit anderen Herausforderungen. Aber momentan lebe ich gern hier.

Geboren wurde ich in der Nähe von Seattle, an der Westküste der USA. Eigentlich wollte ich schon immer nach Europa kommen, irgendwie war es mir in Amerika zu langweilig, und mit der damaligen Politik bin ich auch nicht immer einverstanden gewesen. Ich wollte meinen Horizont erweitern. Daher stand für mich schon sehr früh fest, dass ich nach Europa gehen werde.

Das erste Mal kam ich vor ungefähr sieben Jahren nach Deutschland und war sehr überrascht und beeindruckt, weil mir vieles so bekannt vorkam. Eines Abends lernte ich in einem Hostel einen Juristen kennen. Dem erzählte ich, dass mein Vater in Deutschland geboren sei. Daraufhin sagte mir der Mann, ich könne die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Das war für mich der ausschlaggebende Punkt. Ich habe dann sofort ohne Probleme einen deutschen Pass bekommen und bin hierher gezogen. Zuerst habe ich einen Monat in München gewohnt und am Goethe-Institut einen Sprachkurs belegt. Bis dahin konnte ich kein Wort Deutsch.

Später bekam ich ein Stipendium und konnte in Berlin an einem Institut für Umweltforschung arbeiten. Denn ich habe in New York Umweltpolitik studiert. Doch viel besser kenne ich mich in der Immobilienbranche aus, da ist fast meine ganze Familie tätig. Von meinem Vater, für den ich in Seattle arbeitete, habe ich viel lernen können. Wir stehen uns immer noch sehr nahe.

Familie Die Eltern meines Vaters hatten in Arnstein bei Würzburg ein Geschäft für Kinderbekleidung. Das erste Mal wollten sie 1939 auswandern. Doch es scheiterte daran, dass mein damals fünfjähriger Vater Angst hatte, bei den Grenzkontrollen seinen Namen zu sagen. Anschließend lebte die Familie bei meinem Großvater, der in einem kleinen Dorf in der Nähe von Frankfurt eine Bäckerei besaß.

Auf Warnung der Nachbarn verließ die Familie das Land. Sie sagten ihnen: »Ihr müsst das Haus verlassen, um nicht deportiert zu werden.« Daraufhin machten sie sich auf den Weg. Sie fuhren später mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Russland bis nach China. Von Japan nahmen sie eines der letzten Passagierschiffe in die USA. Das war kurz vor dem Kriegseintritt im Sommer 1941.

Seit ich in Deutschland bin, habe ich erstmals keine jüdische Gemeinschaft um mich. Das fehlt mir hier in Berlin. In Seattle hatte ich durch Familie und Freunde immer regen Kontakt zu anderen Juden. Und in New York war ich viel mit jüdischen Kommilitonen zusammen. Hier in Berlin habe ich den Eindruck, dass es viele Juden gibt, die entweder streng religiös sind oder solche, die gar nichts mit Religion zu tun haben wollen. Mir fehlen hier Menschen, die sich wie ich der Religion und der Kultur verbunden fühlen und ein großes Interesse haben, ohne selbst tief religiös zu sein. Mein Vater wurde sehr religiös erzogen. Er hat diese Tradition aber abgelegt, weil sie sich nicht mit seinen Interessen verbinden ließ.

Einer meiner Brüder wohnt in Israel, und wir besuchen uns sehr häufig. Zwar gefällt es mir in Berlin sehr gut, aber ich habe das Gefühl, viele Menschen zu kennen, die in dieser Stadt hängen bleiben und irgendwie den Absprung nicht mehr schaffen. Das möchte ich gern vermeiden und werde deshalb in absehbarer Zeit nach Israel ziehen, bevor ich wieder in die USA zurückkehre. Ich bin sehr fasziniert von der Kultur und Landschaft in Israel, ich spüre da eine tiefe Verbindung.

Kurz nach Silvester, das meine ganze Familie immer in Idaho verbringt, hat mich mein Bruder in Berlin besucht, obwohl wir uns erst eine Woche zuvor das letzte Mal gesehen hatten. Es fehlt mir hier in Berlin sehr, dass niemand von meiner Familie in der Nähe wohnt.

Essen Von meiner Großmutter habe ich ihr altes, auf Deutsch geschriebenes Kochbuch mit traditionell jüdischen Gerichten geerbt. Damals wurden noch keine Ofentemperaturen notiert, was natürlich jedes Mal eine kleine Herausforderung darstellt. Aus dem Buch koche ich immer wieder mit großer Freude. Essen spielt für mich eine wichtige Rolle, und das, obwohl weder mein Vater noch meine Mutter besonders gut kochen konnten. Die hatten einfach keine Zeit dafür.

Ich habe das Kochen von meinen Kindermädchen gelernt. Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, kochte mein Vater manchmal, und es schmeckte jedes Mal furchtbar. Deshalb übernahm ich nach und nach die Kontrolle in der Küche.

Bevor ich nach Berlin gezogen bin, habe ich einen Sommer lang in Paris eine Kochschule besucht und dabei Französisch gelernt. Für mich ist Kochen eine Art Kunst, oder Meditation – nur besser, weil es am Ende etwas zu essen gibt. In Berlin habe ich einen Supper Club gegründet. Das heißt, es findet sich eine Gruppe von Freunden und Bekannten jedes Mal an einem anderen Ort ein, und ich koche für alle. Jedes Mal zu einem anderen Thema. Dabei sammele ich auch Spenden, jedes Mal für eine bestimmte Organisation. Es geht mir darum, Essen mit sozialem Miteinander zu verbinden und unterschiedliche Menschen zusammenzubringen. Zwar koche ich nicht immer koscher, doch bereite ich sehr gern traditionelle jüdische Gerichte zu.

Immobilien Das Kochen ist aber nicht meine erste Priorität. Das bleibt die Immobilienbranche. In Berlin habe ich schon verschiedene Wohnungen gekauft, renoviert und dann vermietet. Davon verstehe ich am meisten. Momentan arbeite ich für eine kleine Firma, die ein Bauprojekt in Berlin-Mitte betreut. Ich mache das sehr gern, weil ich Verantwortung trage und das Gefühl habe, mich auszukennen.

Auch wenn es viel zu tun gibt, stehe ich morgens viel früher auf, als ich müsste und genieße die Ruhe. Selbst an kalten Wintertagen gehe ich dann joggen im Görlitzer Park vor meiner Haustür. So früh ist in Kreuzberg noch nicht so viel los, und ich kann mich in Ruhe auf die Aufgaben des Tages vorbereiten.

Berlin ist eine großartige Stadt. Immer wenn ich Zeit habe, fahre ich am Wochenende zum Müggelberg, der höchsten Erhebung der Stadt. Hier fühlt es sich ein bisschen wie zu Hause in Seattle an. Die Ruhe der Natur und der weite Blick über das Land und die Stadt wirken sehr beruhigend auf mich und geben mir Kraft. Das Wichtigste für mich ist, ein erfülltes und leidenschaftliches Leben zu führen und dabei stets neue Erfahrungen zu sammeln.

Aufgezeichnet von Urs Kind

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