Deborah steht in der Halle der »Berliner Tafel« vor einer Kiste voller Champignons und hält einen einzelnen Pilz prüfend gegen das Licht. »Wegwerfen oder aufheben?«, fragt sie sich leise selbst. Sie dreht den weißen Kopf zwischen ihren Fingern und mustert ihn genau. »Wenn einer schlecht ist, dann stecken sich die anderen an – und dann hat niemand etwas davon«, sagt sie und legt den Pilz behutsam zurück zu den anderen.
Deborah ist eine von rund 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Zentralrats der Juden, die am Donnerstag vergangener Woche schon vor dem eigentlichen Mitzvah Day, der am 23. November bundesweit stattfinden wird, unterwegs sind. Jedes Jahr unterstützt der Zentralrat eine andere gemeinnützige Organisation. Diesmal ist es die Berliner Tafel, in deren riesigem Lager am Westhafen täglich tonnenweise Lebensmittel ankommen, dann sortiert und ausgeliefert werden.
Wenn Lebensmittel verteilt werden, wird viel gesprochen
Kalte Luft liegt in der Halle, irgendwo knallen Türen, manchmal summt ein Gabelstapler oder jemand ruft etwas. Wenn Lebensmittel verteilt werden, wird viel gesprochen. Auch Michael Wiedermann ist im Gespräch – am heutigen Tag allerdings mit den Helferinnen und Helfern vom Zentralrat. »Wir bekommen immer wieder Ehrenamtliche für einen Tag«, sagt er. Wenn große Firmen oder auch Organisationen ihre Mitarbeiter im Rahmen von Betriebsveranstaltungen oder Firmentagen schickten, sei das »superwichtig« für die Tafeln, wie der Verein auch gern kurz genannt wird. An diesem Tag habe sich zum Beispiel noch eine Gruppe von »Coca-Cola Deutschland« angekündigt, sagt Wiedermann, während er gefüllte Kisten begutachtet und sie zuteilt.
Ein Joghurt kann noch bis zu einem halben Jahr nach Ablauf essbar sein.
Bevor es allerdings für das Mitzvah-Day-Team so richtig losgeht, folgen noch ein paar Fakten: Bis zu 3000 Ehrenamtliche arbeiten inzwischen bei der Tafel in verschiedenen Schichten und sorgen vor allem an Tagen mit großem Aufkommen, dass die Lebensmittel sortiert werden. Der Berliner Verein erreicht nach eigenen Angaben monatlich mehr als 165.000 Menschen, davon seien etwa ein Drittel Kinder und Jugendliche. Mit 22 Lieferwagen verteile die Tafel rund 660 Tonnen gespendeter Lebensmittel pro Monat.
Damit gehöre sie zu den größten Lebensmittelausgabestellen der Hauptstadt. Der Bedarf sei – auch durch die Folgen der Pandemie und die erhöhten Lebensmittelpreise – stetig gestiegen. Die Berliner Tafel betreut derzeit 48 reguläre und sieben Interims-Ausgabestellen.
Mehr als 400 soziale Einrichtungen werden mit Lebensmitteln für die Zubereitung von Mahlzeiten unterstützt
Dort verteilt die Organisation monatlich an rund 70.000 Bedürftige, zusätzlich werden mehr als 400 soziale Einrichtungen mit Lebensmitteln für die Zubereitung von Mahlzeiten unterstützt. Fragen wie »Wer kommt zu den Ausgabestellen?«, »Wie arbeitet die Berliner Tafel?«, »Welche Produkte dürfen weitergegeben werde?« und »Wann muss ein Lebensmittel wirklich weggeworfen werden?« werden beantwortet. Die Helferinnen und Helfer in den grünen Mitzvah-Day-T-Shirts erfahren außerdem, dass die Ausgabestellen für viele eben nicht Ergänzung, sondern lebensnotwendige Versorgung sind.
Dann endlich gibt es Sicherheitsschuhe, Handschuhe, ein kurzes Nicken – und die Gruppen verteilen sich um einen großen Stehtisch, und zwar so, dass alle bequem Zugriff auf mehrere Kisten und eine Biotonne haben. Judith prüft die Weintrauben, Jessi die Kartoffeln und Paavo geht schon zur nächsten Kiste mit Äpfeln. Bald ist die Gruppe in den grünen T-Shirts kaum von den anderen Freiwilligen bei den Tafeln zu unterscheiden. Beim Sortieren sprechen sie über ihre Hobbys, über Fremdsprachen, wo man gut Salsa lernen kann – und halten zwischendurch immer wieder Früchte mit kleinen Stellen hoch: »Weg oder geht noch?«, das ist an diesem Tag die Frage. Und immer wieder der Gedanke an die vielen Lebensmittel, die alle im Alltag selbst wegwerfen, obwohl sie vielleicht noch essbar gewesen wären.
»Jeder hat Hilfe verdient, immer«, sagt Tafel-Gründerin Sabine Werth.
Julia sortiert gerade Brot. »Hier ist die Quote am besten«, sagt sie, denn der überwiegende Teil des Brotes »ist weder hart noch schimmlig«. Generell sei das eine Erfahrung, die dieser Tag am Ende bringen wird: Vieles kann weit über das Mindesthaltbarkeitsdatum noch verzehrt werden. »Joghurt«, sagt die Gründerin und Leiterin der Tafel, Sabine Werth, »ist sogar bis zu einem halben Jahr nach Ablauf noch haltbar. Gemeinsam mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, steht die 68-Jährige bei den Helferinnen und Helfern. Schuster interessiert sich für einige Details, wie die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter und wann besonders viele Lebesnmittel geliefert würden.
Je nach Stadtteil wird anderes Gemüse an die Ausgabestellen gebracht
Je nach Stadtteil, erfährt er, werde anderes Gemüse an die Ausgabestellen gebracht. Die Aubergine gehe vielleicht eher in Neukölln als in Reinickendorf. Aber – und das ist Werth besonders wichtig – es wird nicht nach Herkunft unterschieden: «Jeder hat Hilfe verdient», sagt sie, «immer.»
Kurz vor Ende des Tages bei der Berliner Tafel steht Deborah wieder an einer Kiste, diesmal sind darin Weintrauben. Fast wie ein Profi dreht sie die Früchte, schaut nach kleinen Stellen und legt sie schließlich in eine Kiste.
Auch das kann Tikkun Olam sein: Genauer hinzusehen, bewusster zu entscheiden, sorgsamer mit dem umzugehen, was gegeben ist. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentralrats und die vielen freiwilligen Helfer, die im ganzen Jahr zur Berliner Tafel kommen, machen das mit Obst, Gemüse, Brot – und ganz im Handumdrehen.