Porträt der Woche

»Ich bin ein Flaneur«

»Traditionen müssen gepflegt werden«: Michael Goldberg (57) lebt in Berlin. Foto: Gregor Zielke

Porträt der Woche

»Ich bin ein Flaneur«

Michael Goldberg ist Schauspieler und schöpft aus seinem jüdischen Erbe

von Philipp Fritz  18.07.2016 19:19 Uhr

Ich bin über Umwege nach Berlin gekommen – aufgewachsen bin ich in Basel in der Schweiz. Von Basel aus zog ich als junger Mann nicht direkt nach Berlin, sondern zuerst ging es für mich nach München. Mittlerweile lebe ich schon so lange in der deutschen Hauptstadt, dass ich immer eine Weile nachdenken muss, wie lange eigentlich. Es sind inzwischen mehr als 15 Jahre. Ich denke, man kann sagen, dass ich nach all dieser Zeit ein Berliner bin. Zumindest lebe ich bereits länger in Deutschland, als ich in der Schweiz gelebt habe. Ich bin 57 Jahre alt.

Als Schauspieler wechsle ich oft meine Wirkstätte. Den Wunsch, Schauspieler zu werden, hegte ich schon als Kind. Bereits damals war mir klar: Das muss es sein! Warum, das kann ich nicht sagen. Ich komme nicht etwa aus einer Schauspieler- oder Künstlerfamilie. Ich wusste es einfach.

ausbildung Mit zwölf Jahren bin ich zum Basler Kindertheater gekommen, es hat mir Spaß gemacht, und ich bin dabei geblieben. Nachdem ich meine Matura abgelegt hatte, also die Schweizer Entsprechung des Abiturs, konnte ich nicht sofort an die Schauspielschule nach Deutschland gehen. Ich musste erst zum Militär. Ich war damals 19 Jahre alt. Allerdings reichte es für mich, die Grundausbildung zu absolvieren, denn ich hatte bereits meinen Ausbildungsvertrag von der Münchner Schauspielschule in der Tasche. Nach 17 Wochen war ich durch.

Vier Jahre war ich in Bayern, dann, ich glaube, es war 1985, bekam ich mein erstes Engagement am Stadttheater Hildesheim in Niedersachsen. Ich hatte damals als Schweizer keine Ahnung, wo dieses Hildesheim liegt.

Aber, wie gesagt, so ist das, wenn man Schauspieler ist: Man zieht von Stadt zu Stadt, dorthin, wo ein Engagement auf einen wartet, und hin und wieder ist dann auch eine Stadt dabei, die man zuvor auf der Karte nicht verorten konnte.

celan Ich habe von Beginn an aber nicht nur auf Theaterbühnen gespielt. Für ein Jahr bin ich damals aus meinem Vertrag in Hildesheim ausgetreten, um an einem Film über den großen Lyriker Paul Celan mitzuarbeiten. Der Titel ist Im Süden meiner Seele.

Die Dreharbeiten fanden in Rumänien statt. Das Filmteam und ich wurden Zeugen der dramatischen Ereignisse um das Ende des Sozialismus und den Tod von Diktator Nicolae Ceausescu. Wir kamen 1989 vor Beginn der Revolution ins Land. Als das alles losging, haben wir Rumänien verlassen, sind dann aber recht bald zurückgekehrt. Da viele Gebäude zerschossen oder verbrannt waren und unsere Szenen kaum noch dieselben waren, mussten wir vieles neu drehen. Das hat ewig gedauert!

Fast ein Jahr hat mich das Ganze in Anspruch genommen, bevor ich nach Hildesheim zurückgekehrt bin. Dort bin ich dann aber nicht mehr lange geblieben. Ich ging wieder nach München, diesmal als freier Schauspieler, hatte keine Festanstellung bei einem Theater, nur ein paar Filmaufträge, bis ich ein Angebot aus Stuttgart erhielt.

So ging das dann weiter. Ein Bekannter übernahm die Intendanz in Mannheim und holte mich ans Nationaltheater. Fünf Jahre habe ich in Mannheim gelebt und gearbeitet. Ich weiß, dass die Stadt den Ruf hat, nicht die schönste im Land zu sein.

Aber ich hatte eine gute Zeit dort, habe mit tollen Leuten zusammengearbeitet, und es sind Freundschaften entstanden, die bis heute halten. Mit Frankfurt am Main, wo ich ebenfalls gearbeitet habe, verhält es sich ähnlich wie mit Mannheim. Wenn man erzählt, dass man vorhat, dort hinzuziehen, schlagen einige die Hände über dem Kopf zusammen. Aber auch Frankfurt ist viel besser als der Ruf, den die Stadt hat.

inspiration Mit Berlin ist es anders. Kulturell kann da kaum eine andere Stadt mithalten. Ich hatte überhaupt keine Bedenken, ob es mir hier gefallen würde. Diese Vielfalt an Theatern gibt es in keiner anderen Stadt in Deutschland. Das fördert einen gewissen Wettbewerbsgeist. Die Schauspieler und alle anderen spornen sich gegenseitig an, das Beste und Originellste abzuliefern. Auch die Kunst! Und die Opern! Welche Stadt verfügt schon über mehrere Opernhäuser? Fantastisch!

Eines allerdings gibt es, was mir bisweilen missfällt: Ständig wird gesagt, die Berliner seien so offen und tolerant, ich halte sie oft für ignorant. Das drückt sich aus in so einer Kaltschnäuzigkeit. Aber das ist wahrscheinlich auch mein Empfinden als Schweizer. Als ich hergezogen bin, war ich erst einmal geschockt darüber, wie barsch die Leute in Alltagssituationen miteinander umgehen. Diesen ersten Schock konnte ich jedoch überwinden – ich bin gerne in Berlin unterwegs.

Ich bin ein leidenschaftlicher Flaneur. Wenn ich durch Mitte spaziere, schaue ich hin und wieder in die Wohnungen, durch die Fenster, lasse mich treiben. Auf dem Fahrrad ginge das nicht. Über den Asphalt zu rasen, ist nicht meins. 1999 habe ich ein Engagement an der Schaubühne bekommen, seit zwei Jahren bin ich nun schon am Deutschen Theater. Ich fühle mich nach wie vor wohl, Berlin als Stadt trägt ihren Teil dazu bei – sie ist mir auch Inspiration, klar.

familie Dass ich Jude bin, spielt bei meinem Beruf – zumindest vordergründig – keine Rolle. Aber natürlich ist mein Jüdischsein etwas, woraus ich schöpfen kann. Mein Erbe, das Erbe meiner Eltern, Familiengeschichten: All das ist wichtig. Meine Eltern waren mit mir als Kind beispielsweise nie in Deutschland. Sie haben sich geweigert, dorthin zu reisen; alleine schon ein deutsches Auto zu kaufen, war für sie undenkbar.

Meine Familie mütterlicherseits kommt aus der Schweiz, väterlicherseits aus Polen, aus Galizien. Dieser Teil meiner Familie kam während des Ersten Weltkriegs oder kurz danach in die Schweiz. Und er blieb immer polnisch, von den Schweizern wurden sie so gesehen.

Auch mein Vater war immer »der Pole«. Während des Zweiten Weltkriegs hat das noch einmal eine andere Rolle gespielt, als Pole musste er ständig Angst haben, in sein Heimatland ausgewiesen zu werden – was den Tod für ihn bedeutet hätte. Dazu ist es zum Glück nicht gekommen.

Als ich als junger Mann nach dem Armeedienst nach München zog, habe ich meinen Eltern Deutschland gezeigt. Überall dort, wo ich lebte, haben sie mich besucht. Es war wichtig für sie, Deutschland kennenzulernen und zu sehen, dass dies ein anderes Land ist als das Dritte Reich.

Natürlich haben wir auch negative Erfahrungen gemacht, Antisemitismus gespürt, der sich manchmal nur unterschwellig ausdrückt. Aber das sind Dinge, die uns genauso in der Schweiz oder anderen Ländern widerfahren sind. Es sind also nicht nur meine Erfahrungen, die mich als Juden ausmachen, sondern auch die meiner Eltern.

religion Ich fühle mich dem Judentum kulturell zugehörig. Dabei bin ich gar nicht religiös – ich komme aus keinem religiösen Elternhaus, auch meine Tochter habe ich nicht religiös erzogen.

Meine Großeltern hingegen haben auf gewisse Dinge Wert gelegt. Für sie gehörte der Besuch der Synagoge dazu, auch ein koscherer Haushalt. Was mir jedoch wichtig ist, das sind Traditionen. Pessach ist ein schöner Anlass, jedes Jahr kommen wir in Basel zusammen. Wir, das sind unter anderem meine Schwester, mein Bruder, meine Tochter und ich. Als meine Eltern noch lebten, haben sie dafür gesorgt, dass wir uns regelmäßig in der Schweiz treffen. Diese Rolle übernimmt nun meine Schwester. Dann gibt es zum Beispiel Gefilte Fisch nach einem Rezept meiner Urgroßmutter.

Traditionen müssen gepflegt werden. Ich wollte in Berlin immer einmal eine Synagoge besuchen, auch Kontakt zu einer Gemeinde aufnehmen, aber dazu ist es bisher leider nicht gekommen. Was mich tatsächlich davon abhält, sind die Sicherheitsvorkehrungen. Ich schrecke davor zurück, alleine eine Gemeinde zu besuchen. Ich müsste wahrscheinlich einfach mit einem Freund hingehen. Der Wille ist da, und ich habe ja noch jede Menge Zeit, das zu tun. In Berlin fühle ich mich wohl, und ich habe nicht vor, von hier wegzuziehen.

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