Besuch

»Es ist ein Tsunami«

Charlotte Knobloch (l.) und Deborah Lipstadt, die Antisemitismus-Beauftragte der amerikanischen Regierung, in der Hauptsynagoge »Ohel Jakob« Foto: Andreas Gregor

Der Terroranschlag der Hamas in Israel liegt einen Monat zurück. In Frankreich hat es seither über 700 judenfeindliche Vorfälle gegeben, so viele wie sonst in einem ganzen Jahr. In Großbritannien nahmen in den letzten Wochen Übergriffe auf jüdische Studierende um 400 Prozent zu.

Seit etwa einer Woche ist die Antisemitismus-Beauftragte der US-Regierung, Deborah Lipstadt, in Europa; aus aktuellem Anlass hat sie sich zu der Reise entschlossen. Jetzt, an diesem Montagnachmittag, zieht sie im amerikanischen Generalkonsulat in München Bilanz. Sie sagt, dass die wieder aufbrandende Judenfeindlichkeit keine Welle sei: »Es ist ein Tsunami.«

TREFFEN Nach einer Station in Paris standen für Lipstadt in München Treffen mit dem bayerischen Justizminister Georg Eisenreich, der neuen israelischen Generalkonsulin Talya Lador-Fresher und natürlich ein Besuch in der Israelitischen Kultusgemeinde auf dem Programm. Deborah Lipstadt ist eine vielfach ausgezeichnete Historikerin, eine der renommiertesten Expertinnen zum Holocaust und Autorin zahlreicher Bücher zum Thema. Bei der Pressekonferenz im Generalkonsulat sagt sie nun: »Kein Land ist immun gegen Antisemitismus.« Die Bedrohung sei überall die gleiche, in Frankreich wie in Deutschland und in den USA, nur müssten in Deutschland antisemitische Straftaten noch einmal anders eingeordnet werden – aufgrund der deutschen Geschichte.

Dabei, fürchtet sie, sei der Zenit der Gewalt gegen Juden derzeit noch nicht erreicht, es könne noch schlimmer werden. Antisemitismus durchziehe mittlerweile alle Gesellschaftsschichten und sei nicht mehr nur am rechten oder linken Rand des politischen Spektrums zu finden, sondern auch in dessen Mitte.

Der Antisemitismus durchziehe alle Gesellschaftsschichten.

Problematisch sei, dass antijüdische Tendenzen im muslimischen Kontext von der Politik nur zögerlich benannt würden. Das ändere aber natürlich nichts daran, dass auch die christliche Mehrheitsgesellschaft antijüdische Stereotype verinnerlicht habe. Vorurteile, das hatte sie zuletzt auch in ihrem Buch Der neue Antisemitismus beschrieben, seien immer irrational und ergäben kein logisches Gedankengebäude. Menschen, die Vorurteile in sich trügen, würden daher auch nur ungern mit Fakten in Berührung treten. Im Fall des Judenhasses komme noch dazu, dass dieser oft direkt mit der israelischen Politik verknüpft werde, was fatal sei. So seien in den USA, wo einige Politiker vom Coronavirus als »China-Virus« sprachen, alle Angriffe auf asiatischstämmige Bürger klar verurteilt worden. Und auch wenn der Krieg in der Ukraine vielen Menschen Sorgen mache, wisse sie von keinen Angriffen auf russische Kulturzentren, so die Beauftragte.

Bereits zuvor hatte Lipstadt sich mit Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, zum Austausch getroffen. Die Präsidentin berichtete ihr, in Deutschland habe es auch nach 1945 immer Antisemitismus gegeben: Eine Zeit lang hätten »Opfer und Täter sich gegenseitig in Ruhe gelassen«, es habe nur die nötigsten, meist wirtschaftlichen Kontakte gegeben. Sobald die jüdischen Gemeinden in den 70er- und 80er-Jahren aber vorsichtig begannen, stärker öffentlich in Erscheinung zu treten, hätten auch antijüdische Aggressionen wieder zugenommen. Heute, so Knobloch weiter, fürchte sie zudem, dass Israel für die jüdische Gemeinschaft als sicherer Hafen verloren gehen könnte. »Historisch sind Juden, wenn sie sich einmal an einem Ort niedergelassen hatten, fast immer irgendwann vertrieben worden. Ich will nicht, dass das in Israel auch so kommt.« Die Lage sei ernst: »Ich bin heute verzweifelt.«

Dass Antisemitismus eine Bedrohung nicht allein für jüdische Menschen darstelle, macht Deborah Lipstadt eine Stunde später im Konsulat deutlich. Wenn Teile der Bevölkerung nicht mehr offen zeigen könnten, wer sie sind und wofür sie stehen, dann schwäche das den ganzen Staat. Und: »Keine Regierung, die Antisemitismus toleriert hat, ist lange demokratisch geblieben.« Wiederkehrende Sätze der einstündigen Veranstaltung sind: »I am very concerned« und »President Biden is very concerned« – man mache sich in den USA größte Sorgen.

AUFARBEITUNG Das Publikum richtet zahlreiche Fragen an sie: Was kann man ausrichten, wo kann nur die Politik gegen Antisemitismus tätig werden? Ist die intensive Aufarbeitung der Vergangenheit, gescheitert? Wichtig sei zunächst, entgegnet Lipstadt, Antisemitismus überhaupt als solchen zu erkennen. Nach dem Erkennen komme das Benennen, man müsse über Judenhass deutlich sprechen. Deutschlands Haltung sei »zu dieser Zeit entscheidend«, aber alle Regierungen müssten handeln. Und gescheitert, betont Lipstadt zum Abschluss, sei deutsche Erinnerungsarbeit nicht.

Montagabend gegen 17 Uhr; die letzte Frage der Pressekonferenz. Ob sie vom Tsunami der neuen Judenfeindlichkeit überrascht worden sei? »Überrascht nicht«, sagt die Expertin, »aber erschrocken über dessen Qualität«. Lipstadt, deren Hamburger Vater schon 1926 emigrierte, fügt mit Blick auf die grausamen Ereignisse in Israel hinzu: »Wenn Babys getötet werden, dann gibt es kein Aber.«

Jom Haschoa

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