Hamburg

Einsatz für die Demokratie

Mit dem Tagebuch zum Erfolg: Jessica Köster schrieb die fiktiven Erinnerungen von Samson Dido auf, Axel Zwingenberger gratuliert. Foto: Moritz Piehler

Seit 1998 wird alljährlich der Bertini-Preis verliehen. Am vergangenen Montag wurden also zum 16. Mal im Ernst Deutsch Theater in Hamburg Projekte ausgezeichnet, die in besonderer Weise ein solidarisches Zusammenleben fördern. Der Preis, benannt nach dem Roman Die Bertinis von Ralph Giordano, ehrt junge Menschen, denen Zivilcourage kein Fremdwort ist und die sich im hohen Maße persönlich gegen Ausgrenzung einsetzen und Erinnerungsarbeit leisten.

Es ist kein Zufall, dass für die Preisverleihung ausgerechnet der 27. Januar als Datum gewählt wurde, denn besonders am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus sollte daran erinnert werden, dass Eingreifen, sich Einmischen und Hinschauen noch längst keine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit sind. »Lasst euch nicht einschüchtern« lautet das Motto. Bisher durften sich 57 Gruppen und Einzelpersonen über die mit insgesamt 10.000 Euro dotierte Ehrung freuen.

Preisträger In diesem Jahr entschied sich die Jury dafür, nur drei Projekte von den 18 Kandidaten auszuwählen. Eine der Auszeichnungen ging an drei Schülerinnen des Gymnasiums Allermöhe, die sich für einen Stolperstein zur Erinnerung an Frieda Fiebiger eingesetzt hatten. Stellvertretend wollten sie mit der Biografie der Hamburgerin an die Schicksale Hunderter durch die NS-Euthanasie ermordeter behinderter Menschen aus der Hansestadt erinnern. Die schwer körperlich behinderte Frau war aus den Alsterdorfer Anstalten nach Wien deportiert worden und an den Folgen der medizinischen Behandlung durch die Nazis gestorben.

Die Schülerinnen hatten in Archiven Fiebigers Briefe gefunden und so eine Biografie zum Stolperstein erstellen können. Frieda Fiebiger hatten sie damit aus ihrer Anonymität als Euthanasie-Opfer befreit. Lange Zeit war in Hamburg die Vergangenheit der Alsterdorfer Anstalten verschwiegen worden.

Auch 25 Schülerinnen und Schüler der Ida-Ehre-Schule erhielten den Preis. In einem langfristigen Projekt hatten sie sich für ein Denkmal für die Wehrmachtsdeserteure eingesetzt. Bislang tat sich die Hansestadt schwer mit der Umsetzung, nun liegt auch dank des Einsatzes der Projektgruppe ein fraktionsübergreifender Beschluss vor, der über ein solches Denkmal für die Opfer der NS-Militärjustiz noch in diesem Jahr entscheiden soll.

Deserteure Erst 1998 waren die Urteile des Naziregimes gegen Deserteure offiziell aufgehoben worden. Die Schüler hatten sich mehrfach mit Zeitzeugen getroffen und eigene Vorschläge zur Gestaltung des Denkmals vorgelegt, das am Dammtor als Kontrast zu dem bisherigen Soldatendenkmal entstehen soll.

Als Einzelperson erhielt die Abiturientin Jessica Köster der Stadtteilschule Eidelstedt den Bertini-Preis für ihr fiktionales Tagebuch des realen Kameruner Prinzen Dido, der in den sogenannten Völkerschauen des Tierparks Hagenbeck zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Schau gestellt worden war. Köster hatte bereits mehrfach aus Samson Didos Tagebuch gelesen und so für das Thema eine Öffentlichkeit hergestellt. Damit habe sie auf ein lange unbeachtetes Kapitel in der kolonialen Geschichte der Hansestadt hingewiesen, hieß es in der Begründung der Jury.

Laudator Wolf Biermann hob besonders die Verdienste des Lehrers Michael Magunna, dieses »verrückten Pädagogen«, hervor, der den Preis ins Leben gerufen hatte. Magunna habe die tiefere Bedeutung von Giordanos autobiografischem Roman verinnerlicht und dies an seine Schüler weitergegeben, sagte der Hamburger Liedermacher.

In typisch Biermannschem Duktus ersponn der Barde eine Begegnung mit Heine, der ihm an seinem Grab in Paris vom »Freiheitskrieg« erzählt habe, dieses »ewigen Menschheitkrieges gegen Unterdrückung im Kleinen wie im Großen«. Damit reihte sich Biermann in die Riege der Laudatoren ein, die betonten, dass Zivilcourage im Alltag bereits in kleinen Situationen beginne.

Aktualität Auch Ralph Giordano selbst sprach davon in seiner Videobotschaft zu den Preisträgern der Ida-Ehre-Schule. Er sehe in den Preisen der vergangenen Jahre den Kampf gegen die Relikte aus NS-Zeiten wie einen roten Faden. Dass es dennoch ein hochaktuelles Thema sei, dafür führte Giordano die Gewalttaten des NSU und die Notwendigkeit eines Verbotsverfahrens gegen die NPD an. Er warnte vor einer »Opa-Mentalität«, die den Nationalsozialismus verkläre.

Umso wichtiger sei das Engagement der jungen Generation. So sei für den anwesenden ehemaligen Marinedeserteur Ludwig Baumgart die Begegnung mit den Ida-Ehre-Schülern »wie ein Ritterschlag« gewesen. Gerade in Hinsicht auf diesen Aktualitätsbezug hätte man sich allerdings gewünscht, dass auch ein Projekt ausgewählt worden wäre, dass sich nicht nur dem Mahnen gegen das Vergessen verschrieben hat.

Zum Abschluss des Festakts wandte sich Ralph Giordano persönlich an die vielen Zuschauer im Ernst Deutsch Theater. Der 90-Jährige betonte, wie wunderbar er es immer noch findet, Mitkämpfer in seinem Streben für die demokratischen Grundwerte zu finden: »Daran werde ich mich nie gewöhnen, das wird für mich nie zu einer Selbstverständlichkeit!«, wandte sich der Journalist und Autor sichtlich bewegt an die Preisträger.

Warnung Und eine Warnung hatte der nimmermüde Giordano getreu dem Motto des Bertini-Preises auch noch: »Wer immer die Demokratie angreifen oder beschädigen oder gar abschaffen will, dem gehe ich an die Kehle, der hat mich am Hals!« Dies quittierte das anwesende Hamburger Publikum mit tosendem Applaus. »Es zählt zu den Wundern meines Lebens«, so Giordano, »dass ich ein Buch geschrieben habe, das zu einer Hamburger Institution geführt hat, die sich so um ihre Mitmenschen kümmert.«

Jom Haschoa

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