Frankfurt/Main

Ein gemeinsames »Wir«

Auf dem Podium: Samuel Kantorovych, Miriam Golinets, Sabena Donath, Sabina Ermak, Roman Nessel und Sarah-Elisa Krasnov (v.l.) Foto: TR

Lassen sich Stereotype durch Eigeninitiative abbauen? Ist es möglich, die eigene Lebenswelt so zu vermitteln, dass Vorurteile der Vergangenheit angehören? Nach vier Jahren »Meet A Jew« wird Bilanz gezogen und festgestellt, dass die Gespräche auf Augenhöhe auf offene Ohren stoßen. »Ich kann den Eindruck selbst gestalten«, sagt Samuel Kantorovych, Student des Rabbinerseminars zu Berlin, überzeugt auf der Podiumsdiskussion in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt.

Mit diesen Fragen beschäftigte sich die zweitägige Fachtagung des Projekts zur Antisemitismusprävention »Meet A Jew« des Zentralrats der Juden, die am 5. und 6. Juni in Frankfurt stattfand.

Sabena Donath, Direktorin der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden, betont beim Auftakt: »Wir wollen selbstbestimmt jüdische Positionen in den bildungspolitischen Diskurs einbringen.« In einem umfangreichen Programm werden diese diversen Positionen zentraler Multiplikatoren wie Bildungsforschung, Projekte, Sportvereine und Pädagogik vermittelt. Dabei kommen ehrenamtliche Freiwillige, Politiker, Forscher und Vorsitzende jüdischer Institutionen zu Wort.

Der Vizepräsident des Zentralrats, Abraham Lehrer, verweist in der Begrüßung auf die Dringlichkeit des Projekts. Er beschreibt, wie Vorurteile über Juden zwischen Philosemitismus und Antisemitismus schwanken. Dabei zitiert er die Mitarbeiterin der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), Laura Cazés, die beschreibt, dass jüdische Lebenswelten in Deutschland in ihren Facetten kaum wahrgenommen werden. Einerseits, weil sie durch den Holocaust fast gänzlich zerstört wurden, und andererseits, weil sie häufig im Zusammenhang mit Antisemitismus, dem Nahostkonflikt und der Schoa gesehen werden. Dieser einseitigen Ansicht soll entgegengewirkt werden, indem jüdische Freiwillige interessierte Schulklassen, Sportvereine und Universitäten besuchen. In einem ungezwungenen Gespräch können Fragen zum Alltag und zu Lebensrealitäten gestellt werden.

Die Begegnungspädagogik fördert Empathie und ermöglicht einen Perspektivwechsel

Das Konzept des Projekts wurde vor etwa 30 Jahren von Alfred Bodenheimer, Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums, entwickelt. Es basiert auf dem Wunsch nach einem Dialogprojekt, in dem ein Austausch mit Peers, das heißt mit gleichaltrigen Personen unterschiedlicher religiöser Hintergründe, stattfindet. Die Peers sollen als aktive Vermittler ihres eigenen Wissens auftreten und Stereotype sowie Vorurteile abbauen. Die Begegnungspädagogik fördert nach dem Stand aktueller Forschung Empathie und ermöglicht einen Perspektivwechsel. Durch das Gespräch auf Augenhöhe entsteht ein gemeinsames »Wir«, bei dem unter anderem Jugendliche mit arabisch-muslimischem Hintergrund erreicht werden. Die Distanz und Fremdheit wird überwunden, weil häufig offenbar keine Jüdinnen und Juden in der Schule oder im Freundeskreis sind und Überschneidungspunkte fehlen.

Die Erfahrungen der jüdischen Ehrenamtlichen sind dabei weitestgehend positiv: Die besuchten Schülerinnen und Schüler sind respektvoll, offen, herzlich und wissbegierig. Wenig fruchtbar seien die Begegnungen jedoch, wenn die Gruppen von den Lehrenden nicht ausreichend vorbereitet wurden und wenig bis kein Vorwissen zum Judentum besteht.

Ein besonders positiver Aspekt des Bildungsprojekts sei das Empowerment der jüdischen Freiwilligen. In den Gesprächen können sie ihre Lebenswelten selbst darstellen. Jeweils zwei ehrenamtliche Teilnehmer des Projekts werden dabei in die Gruppe geschickt. Hier werde auch auf Unterschiede geachtet: So sitze eine junge orthodoxe Mutter neben einer Lehrerin, die zwar koscher esse, aber in einer interreligiösen Beziehung lebe. Die Rolle des Judentums im eigenen Leben werde häufig im Vorhinein erst herausgestellt.

Als Vorbereitung für die Treffen werden in vier Wochenendseminaren die Themen Judentum, Israel, Kommunikation und Reaktion, Ethik und Geschichte besprochen und in Simulationen und Rollenspielen angewendet. Die Teilnehmer werden so auf die Gespräche in einem geschützten Raum vorbereitet und können selbst entscheiden, was sie von sich preisgeben möchten. Dem stimmt die Abi­turientin Miriam Golinets zu und sagt: »Ich möchte als komplexes Wesen wahrgenommen werden«, sie stelle sich mit ihrem »authentischen Ich« vor. Das Erleben der Selbstwirksamkeit und Handlungskompetenz sei für viele die Motivation für das Engagement. Eine weitere Motivation formuliert die Vorsitzende der Jüdischen Liberalen Gemeinde in Kassel, Sarah-Elisa Krasnov: »Ich möchte, dass meine Kinder in diesem Land eine Zukunft haben.«

Antisemitische Gewalt ist im öffentlichen Raum sowie an Schulen und Universitäten allgegenwärtig

Nach dem 7. Oktober 2023 ist das Programm gefragter denn je. Das Interesse an den Begegnungen sei um 50 Prozent gestiegen. Teilweise liegt das am fehlenden Wissen zum Konflikt in Nahost, da dieser häufig nicht Teil der Ausbildung von Lehrern ist. Gleichzeitig stellt das Massaker der Hamas das einschneidendste Erlebnis und eine Zäsur für die jüdische Gemeinschaft in der jüngeren Gegenwart dar. Antisemitische Gewalt ist im öffentlichen Raum sowie an Schulen und Universitäten allgegenwärtig. Symbole, die eine Zugehörigkeit zum Judentum darstellen, wie Davidsterne, Chai-Zeichen und Makkabi-Fußball-Trikots, werden nicht mehr öffentlich getragen oder nach dem Verlassen eines geschützten Raums abgelegt.

Davon berichten auch einige der jüdischen Freiwilligen. So haben sie sich vor dem 7. Oktober an ihren Arbeitsorten noch als jüdisch »geoutet«, vermeiden das aber mittlerweile oder erzählen es nur Vertrauten. Deshalb ist die Gemeinschaft, die »Meet A Jew« auch für Jüdinnen und Juden darstellt, wichtiger geworden. Der Wunsch nach geschützten Räumen wird größer und dringlicher.

Der Wunsch nach geschützten Räumen wird dringlicher.

Nachdem es nun vier Jahre besteht, kann das Projekt als erfolgreich bewertet werden. Es wurden seit dem Start 2600 Begegnungen durchgeführt und rund 65.000 Menschen erreicht. Trotzdem stößt es an seine Grenzen. »›Meet a Jew‹ funktioniert nicht als Allheilmittel«, betont Marat Schlafstein, sondern sei lediglich ein Teil der Antisemitismus-Präventionsarbeit. Denn obwohl eine Begegnung Empathie und Verständnis fördere, bleibe sie dennoch nur eine Situation, die nicht alle Facetten des Antisemitismus auflösen könne. »Antisemitismus bleibt ein gesamtgesellschaftliches Problem, das von allen angegangen werden muss«, betont die Projektkoordinatorin Mascha Schmerling. Sie wirbt für eine nachhaltige Bildungsarbeit, die über eine »Feuerlöscher-Logik« hinausdenke.

Nachdem die erste Förderperiode Ende des Jahres ausläuft, wünschen sich die Koordinatoren des Projekts mehr Selbstverständlichkeit für jüdisches Leben in Deutschland. Sie möchten, dass Jüdinnen und Juden nicht auf ein Podest gehoben werden, sondern dass ihnen mit mehr Offenheit begegnet werde. Ein weiterer Wunsch ist, nicht nur vom Bundesfamilienministerium, dem Zentralrat der Juden und den Bundesländern Baden-Württemberg und Berlin gefördert zu werden, sondern dass die gesamte Gesellschaft Verantwortung übernimmt und sich alle 16 Bundesländer an der Finanzierung beteiligen.

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